Nummer 125 Zurück zum Archiv

Von Anfang bis SchlusZ

Erscheinungsdatum: September 2006

Auszüge:
Inhaltsverzeichnis
Liebe Leserin, Lieber Leser
Terézia Mora: Über das Brot
Rudolf Bussmann und Martin Zingg: Der Dreh
Michel Mettler: Pippin der Letzte
 
 
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Inhaltsverzeichnis

(Unterstrichene Texte können angewählt werden)

Liebe Leserinnen, liebe Leser

Ulrike Draesner, A
Terezia Mora, Über das Brot
Franz Hohler, 12.30 Uhr
Melinda Nadj Abondji, Trigonometrie
Rudolf Bussmann/Martin Zingg, Der Dreh
Zsuzsanna Gahse, Oder weniger geordnet
Matthias Zschokke, F wie Fritz
Jürg Schubiger, Komma
Urs Allemann, ganz gestohlen
Ivan Farron, H
Christina Viragh, I
Guy Krneta, !
Helen Meier, K
Klaus Merz, Semikolon. Ein Lebenszeichen
Eleonore Frey, Lippen
Martin R. Dean, MOI
Kurt Aebli, N
Giovanni Orelli, O
Adolf Muschg, Postscriptum, Porto payé
Monique Schwitter, Von Kühen
Peter Weber, Repetitives Reiselied
Michel Mettler, Pippin der Letzte
Hanna Johansen, S
Rotraut Gamblert, In dieser Gegend endet alles
Sabina Naef , U
Birgit Kempker, Vater Vater wie hoch darf ich
Etienne Barilier, Verre ou vair?
Beat Sterchi, Wo wir wohnen
Christoph Simon, X
Bruno Steiger, Klammer auf
Jürg Laederach, Tödlych verlaufende Vysyte
Pedro Lenz, Der Zumacher

Die Autorinnen und Autoren
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Über dieses Heft

Liebe Leserin, lieber Leser,

Dies ist kein Wörterbuch und keine Enzyklopädie, hat aber durchaus Züge von beiden. Nicht nur, weil hier das ABC diszipliniert abgeschritten wird und Befunde zutage gefördert werden, die überraschend, verblüffend und erhellend sind. Sondern auch deshalb, weil sich die hier versammelten Beiträge dem Objekt ihrer Untersuchung mit Methoden annähern, welche auf dieses exakt abgestimmt sind. Sie unterwerfen die einzelnen Buchstaben, ja selbst die Satzzei-chen einer unerbittlichen Befragung, aus der sich Antworten ergeben, welche die Form einer linguistischen Studie, einer sprachlichen Digression, einer Erzählung, einer Szene, Grille, Kapriole annehmen können. Wo man dieses ABCdarium auch aufschlägt, überall ist ein munteres Parlieren im Gang, das lehrreich oder unterhaltend, hintergründig oder verspielt, immer aber höchst eigenwillig und anregend ist.
Die Autorinnen und Autoren bekamen die Buchstaben resp. Satzzeichen zugeteilt und sahen sich vor die zunächst undankbar erscheinende Aufgabe gestellt, diese auf eine nicht weiter definierte Art zum Leben zu erwecken. Sie reagierten mit Sprachwitz und Lautkunst, mit Einfällen und ironischer Verspieltheit. Und letztlich ist dann doch so etwas wie eine kleine Enzyklopädie entstanden, eine, die auf unangestrengte Art vorführt, was man mit den Elementarteilchen der Schrift alles anstellen kann und welche literarischen Schreibweisen zur Verfügung stehen, um sie in feste, tragfähige Formen zu bringen.
Das vorliegende Buch ist zugleich die Sommer-/Herbstnummer 2006 der Literaturzeitschrift »drehpunkt«, die auf diese Weise ihre 125. Ausgabe feiert. Wir danken den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge, dem Künstler Heinz Egger für seine Gouachen und Kohlezeichnungen.
Gleichzeitig verabschieden wir uns nach 25 Jahren vom »drehpunkt« und legen die Verantwortung für dessen Herausgabe in die Hände des Verlegers und Herausgebers Urs Engeler, den unsere besten Wünsche in die »drehpunkt«-Zukunft begleiten. Ein ganz herzhafter Dank geht an die Leserinnen und Leser, die uns über all die Jahre die Treue gehalten haben – bleiben Sie dem »drehpunkt« gewogen!

Rudolf Bussmann und Martin Zingg

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Terézia Mora

Über das Brot

Mein Vater lehnte, wie gewöhnlich, an der Theke, die Hand an einem Bier, und sagte:
Ich, der ich Bescheid weiss über den unfreiwilligen Hunger, werde dir jetzt etwas über das Brot erzählen.
Du weisst, wir sind eine Familie von Bäckern, du hast darüber geschrieben, das war alles sehr schön, die Backstube hinten im Hof, nur durch eine Mauer vom Bach getrennt etcetera, aber lass mich ein paar Einzelheiten ergänzen. Ich habe darüber auch einen Eintrag in einem Online-Lexikon verfasst, du kannst ihn dort nachlesen, aber ich kann ihn dir auch zusammenfassen, denn das meiste habe ich, während ich es schrieb, auswendig gelernt. (Béla, sagte einmal eine Frau zu mir, du hast eine Gabe: Du sprichst wie gedruckt. Mach was daraus. – Steht an der Theke, Hand an Bier, und spricht:)
Brot ist das Hauptnahrungsmittel der Menschheit, alle anderen Lebensmittel gruppieren sich um das Brot. Das war in allen Zeiten und ist in allen Kulturen so. Das beste Brot macht man aus Weizen und Roggen, in zweiter Linie aus Gerste, Hafer und Mais. Die Güte der Hausfrau misst sich an der Qualität ihres hausbackenen Brotes. Unser Land ist die Heimat des guten Brotes. Unser Brot ist europaweit berühmt. Das liegt zum einen an der guten Qualität unseres Mehls (in Klammern: wie die Güte unseres Bieres eine direkte Folge der Güte unseres Wassers ist; nimmt einen grossen Schluck) und zum anderen, natürlich, an unserer Begabung für alles, was einfach, rein und ursprünglich ist.
Brot aus Weizenmehl ist heller und trockener als das aus Roggenmehl, letzteres verlangt ein kräftigeres Kneten und ein längeres Backen bei stärkerer Hitze. Gutes hausbackenes Brot macht man auf folgende Weise:
Am Vorabend des Backens siebt man das Mehl, gibt es in eine Holzwanne oder eine Tonschüssel. In die Mitte drückt man mit der Hand eine Kuhle, gibt den mit lauwarmem Wasser vermischten Sauerteig hinein und verarbeitet ihn sanft mit etwas Mehl. Zugedeckt an einem lauwarmen Ort bis zum nächsten Morgen stehen lassen. Am nächsten Morgen, 3 Stunden vor dem Backen, vermischt man den Teig mit Hefe, etwas Salz, Kümmel oder Anis, und gibt zu 8 Litern Mehl etwa 4 Liter Wasser. Diese Mischung knetet man eine gute Viertelstunde. Brot aus Weizenmehl kann man in der Schüssel aufgehen lassen, Roggenbrot nimmt man sofort heraus, formt einen Laib und legt diesen in den mit einem bemehlten Brottuch ausgelegten Brotkorb, wo man ihn 2,5 bis 3 Stunden gehen lässt. Der aufgegangene Brotteig ist etwa doppelt so gross wie vor dem Gehen. Man bäckt ihn 2 Stunden lang bei gleichmäßiger Hitze.
Unsere Familie bevorzugt die Methode des Steinofenbrotes. Dazu heizt man den gemauerten Ofen einige Stunden lang mit Holz auf, bis die Steine glühen. Dann entfernt man die Asche aus dem Ofen und stellt stattdessen den in Holzschüsseln gelegten Brotteig hinein. Man kann die Laibe auch direkt auf die Steine legen – diese erkennt man später an der grauen Asche an ihrer Unterseite. Die Kruste ist bei einem Brot das A und O. Die Brote, die du bei dir im Laden kaufen kannst, sind meist nicht gut genug durchgebacken, deswegen trocknen sie so schnell aus, und du musst jeden Tag hinrennen und ein neues kaufen. Wohingegen unser Brot mindestens eine Woche hält.
Lass mich nichts dazu sagen, was heutzutage alles in einem industriell gefertigten Brot ist, ich will dir nicht den Appetit verderben.
Über den Geruch frischen Brotes muss ich dir nichts erzählen. Obwohl jemand geschrieben hat, er habe von jemandem gehört, in großen Mengen sei das ein unerträglicher Gestank. Ich kann das weder bestätigen noch widerlegen. Mir ist noch nie so eine grosse Menge begegnet. Wir waren nur eine kleine Backstube. Hast du dir schon mal die Zunge an Brot verbrannt?
Solange es noch lauwarm ist, esse ich es für meinen Teil am liebsten nur mit einer Prise Salz, das bringt den Geschmack am besten hervor.
Später nehme ich gerne etwas saure Sahne, Kräuterquark oder auch Schmalz und Schnittlauch, Paprikaschoten oder Tomaten. Salami, wenn man hat.
Wenn ich sehr hungrig bin, weil ich zum Beispiel den ganzen Tag unterwegs war, schneide ich das Brot nicht, sondern greife mit einer Hand hinein und reisse ein Stück heraus, das ich mir gierig in den Mund stopfe, während ich mit der anderen Hand den Sliced Bacon aus der Packung fummele, und oh, wieso habe ich keine dritte Hand, mit der ich die Paprikaschote halten könnte, um ihr die Spitze abzubeissen? Früher gab es natürlich keinen Sliced Bacon, wir führten Bauchfleisch und in Paprika gewälzten Speck in Butterpapier mit uns, den wir mit dem von unsrem Grossvater geerbten Taschenmesser schnitten. Da ich der älteste bin, hatte ich ein Vorrecht auf das Messer, ebenso wie auf den Wetzstein, die Schweizer Uhr und später den Siegelring, der mir nur auf dem Zeigefinger passt. Für die Uhr habe ich, als das modern war, ein Metallgliederarmband gekauft, da brach der kleine Metallstab heraus, an dem man normalerweise das Lederband befestigt, und ich verlor die Uhr. Ebenso das Messer. Das war irgendwann während meiner illegalen Grenzüberquerung. Das hat mich sehr getroffen, ausgerechnet während der Flucht das Messer zu verlieren. Es ist mir wohl aus der Hosentasche geglitten, jetzt liegt es irgendwo auf einer Wiese in den Bergen des Dreiländerecks.
Bis zu diesem Zeitpunkt kannte ich nur Weissbrot. In Deutschland lernte ich dann brauneres Brot kennen. Ich gebe zu, Mettwurst schmeckt gut mit Graubrot. Übrigens war das erste Essbare, das ich mir im Westen gekauft habe, ein Sesambrötchen, und ich habe es sogleich bereut. Es war, ohne Übertreibung, das Schlechteste, was ich je gegessen habe. Als zweites versuchte ich ein Käsebrötchen, aber das war dasselbe. Später lebte ich eine Weile von einer Leberwurstkonserve oder, zur Abwechslung, einem Paar Wiener (in Wien: Frankfurter) Würstchen am Tag, das schmeckt mit jeder Art von Brot gut, und nicht nur, wenn man hungert. Sogar mit Knäckebrot, was eine seltsame Sitte ist, aber eine Weile gab es bei uns um die Ecke welches mit Käse und Kürbiskernen zu kaufen, das war nicht schlecht.
Später, als ich, bedingt durch meine Arbeit, anfing, herumzureisen, ass ich Austern in Bordeaux mit gesalzener Butter auf Graubrot, in Brest Schnecken in Kräuterbutter, diese verlangen allerdings wieder eher nach hellem Brot, während der Räucherlachs, den ich in Bergen gegessen habe, gut mit schwarzem Brot schmeckt. Vergegenwär-tige dir den nussigen Geschmack von Pumpernickel mit Schmelzkäse – wenn ich auch zugeben muss, dass ich nur etwa einmal im Jahr Appetit darauf bekomme.
In Bergamo röstete ich das Ciabatta mit etwas Olivenöl in der Pfanne, das schmeckt sowohl mit trockenem als auch mit frischem Brot. In den seltensten Fällen lasse ich es mir nehmen, etwas Knoblauch draufzuschmieren und Rotwein dazu zu trinken. In meiner Kindheit nahmen wir dafür natürlich unser eigenes, eine Woche altes Brot. Von einem Toaster hatte noch nie einer was gehört und auch nicht von Olivenöl. Öl galt damals generell als eine stinkende, künstliche Sache, die sich nur Dummköpfe, ahnungslose Stadtmenschen aufschwatzen liessen. Wir nahmen natürlich Schweineschmalz, und davon nicht wenig, wir waren fettig bis hinter die Ohren. Je trockener das Brot war, umso besser liess sich die Knoblauchzehe darauf verreiben. Wir Brüder standen im Wettbewerb miteinander: eine Knoblauchzehe pro Scheibe zu nehmen war Ehrensache. Wir durften noch keinen Wein und keinen Schnaps trinken, was ein Fehler war, denn nicht nur einmal mussten wir vom fettigen Brot und dem vielen Knoblauch kotzen. Dennoch assen wir es immer wieder gerne.
Oft machten wir uns, wenn wir alleine zu Mittag essen mussten, auch etwas, was wir Brot im Pelz nannten, im Westen heisst es wohl French Toast, wenn mich nicht alles täuscht. Man wende Weissbrot in mit Milch verquirltem Ei und brate es in Butter (wir damals natürlich ebenfalls in Schweineschmalz). Auch dazu schmeckt Knoblauch, aber, und das ist das Geniale daran, auch Marmelade. Meine Lieblingsmarmelade ist die aus Aprikosen, auch meinen Lieblingsschnaps, den Barack, macht man daraus.
Unvergleichlich ist das Brot, das man beim Lagerfeuer unter den schwitzenden Speck hält, dieser russige Geschmack. Später habe ich auch das Grillen kennen gelernt, auch dieses Brot ist gut.
Gib verschimmeltes Brot niemals Tieren zum Fressen und iss es auch selber nicht. Bewahre Brot nicht im Kühlschrank und nicht in einer Plastiktüte auf. Am besten ist ein Keramikgefäss, obwohl ich zugeben muss, dass ich selbst nie eins besessen habe. Ich habe eins, wo Zwiebeln draufsteht, aber das ist zu klein.
Du fragst, warum ich dir das alles erzähle? Nun, vielleicht hast du gehört, dass mein Bruder, dein Onkel also, der die Backstube übernommen hat, beschlossen hat, die Holzofenmethode aufzugeben. Gestern waren den ganzen Tag Leute da, die einen Gasbackofen installiert haben, und ich muss dir sagen, dass mich das sehr empört, obwohl ich im Allgemeinen nicht zu denen gehöre, die gegen den Fortschritt sind. Deswegen habe ich meinem Bruder auch nicht gross Steine in den Weg gelegt, das kann ich gar nicht, aber als ich das erste neue Brot kosten sollte, versagte ich. Ich nahm zwar, wie die anderen, ein Stück des Brotes, hielt es mir auch vor Nase und Mund, aber ich schaffte es nicht mehr, hineinzubeissen. Ich roch nur daran. Es roch anders, es roch nicht nach Asche, auch die Kruste war weicher, das ganze Brot war heller, und die, die es gekostet haben, haben gesagt, dass es auch etwas trockener und salzloser schmeckte, was allerdings nicht am neuen Ofen liegen musste. Der letzte Ballen Salz, den er gekauft habe, sagte mein Bruder, dein Onkel, scheint nicht viel zu taugen. Ausserdem sagte er, dass der Ofen erst eingebacken werden muss, die nächste Charge wird bestimmt besser, und die übernächste noch besser. Ich nickte und hatte mein Brotstück schon verkrümelt, teilweise in meine Hosentasche, teilweise auf den Boden, ich glaube, er hat nichts bemerkt. Seitdem, fast einen ganzen Tag schon, konnte ich nichts mehr essen. Denn was ich auch immer hätte essen wollen, zu allem hätte ich Brot essen wollen, aber seitdem das Brot meines Bruders anders geworden ist, habe ich das Vertrauen in alle Brote verloren. Du wirst wahrscheinlich wieder sagen, dass ich mich kindisch verhalte, aber dein Vater ist eben ein sensibler Mensch, ein sehr sensibler Mensch.
Nudeln, sagte ich. Du könntest Nudeln essen. Oder Reis. Dazu isst man kein Brot.
Nudeln, sagte er. Reis. Ich kleb dir gleich eine.
(Er war schon sehr betrunken.)
Ich habe Hunger! brüllte mein Vater, schwankend, in seiner Hand ein leeres Glas. Es wurde ihm wieder aufgefüllt, das beruhigte ihn. Danke, sagte er artig. Und zu mir: Du hast recht, man muss sich nur einmal überwinden. Die Küche hat schon zu, aber frag doch mal nach, ob sie vielleicht noch ein paar Brotreste dahaben, die geben sie mir vielleicht sogar umsonst, ich trinke solange dieses Bier hier.
Danke, meine Tochter, dass du mir Brot gebracht hast, es ist tatsächlich das neue Brot meines Bruders, ich erkenne es, es ist zu hell und zu trocken, aber ich habe jetzt eine Lösung, schau. Ich habe mir einen Barack bestellt, da tunke ich es ein. Manche Leute halten das Tunken im Allgemeinen für nicht schicklich, aber das ist mir egal. Probier mal, lutsche es richtig aus, spürst du, wie die Flüssigkeit in den kleinen Löchern, eigentlich sind es Waben, hin und herwandert? Jetzt fühle ich mich wie ein alter Grieche. Wusstest du, dass ihr Frühstück aus Brot bestand, das sie in mit Wasser verdünnten Wein eintunkten? Wenn ich jetzt aber auch noch Wein trinke, ergeht’s mir wirklich schlecht, fürchte ich, mir ist sowieso schon ganz schwindlig. Ich hatte schon zu viele Biere und, ja, ich habe auch wieder zuviel geredet, und leider auch etwas durcheinander, aber du, die du aus meinem Blute bist, verstehst mich, nicht wahr. Du verstehst, was ich dir sagen will, wenn ich sage: das Brot ist die Essenz unseres Lebens, es ist wichtiger, als alles andere, wichtiger noch als Religion, nicht umsonst hat auch der gute Jesus gesagt, sein Leib sei ein Brot, er wusste schon wieso. Mein Leib ist kein Brot, leider, er ist nur Fleisch und Blut, Knochen und Sehnen, aber darüber erzähle ich dir ein anderes Mal. Ich bin müde, meine Tochter, bringst du mich nach Hause, oder schämst du dich für mich? Und könntest du bitte die Biere und den Barack bezahlen, während ich mit meinem feuchten Zeigefinger die letzten Brosamen aus dem Körbchen tunke? Ein paar behalte ich unter dem Fin-gernagel und trage sie so nach Hause, damit ich sie vorm Einschlafen knabbern kann, den süssen Geschmack von mit etwas Schmutz vermischten Krümeln, und wenn ich Glück habe, träume ich vielleicht was Schönes, vom Essen natürlich, wovon sonst, vom Trinken, oder, diese Nacht halte ich es für möglich, vielleicht sehe ich im Traum, wo Bicska liegt, das Taschenmesser, das ich auf den Bergwiesen des Dreiländerecks verloren habe.


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Rudolf Bussmann und Martin Zingg

Der Dreh
Punktuelles zum Phänomen Literaturzeitschrift

Doppelter Boden
Ein Text betritt die Literaturzeitschrift wie ein Mensch das Kaufhaus. Sobald er die Schwelle überschritten hat, ist er nicht mehr allein. Er hat Nachbarschaften zu erdulden, sich in einem Angebot, das er zuvor nicht gekannt hat, zurechtzufinden; er wird in die Ecke abgedrängt, sucht sich mit allem, was ihm zur Verfügung steht, zu behaupten. Ohne dass er sich nach aussen hin verändert hätte, ist er ein anderer geworden. Trat er als Individuum ein, findet er sich nun als Teil eines Ganzen, dem er nicht entrinnen kann. Umgekehrt ist das Ganze auch ein Teil von ihm. Es versorgt ihn mit zusätzlichem Sinn. Durch das Betreten des Innenraums Zeitschrift erfährt er eine Eingrenzung, die ihm zu einer Ausdehnung seines Bedeutungshorizonts verhilft.
Zwei Beispiele. Der Satz „So schmollt sie, seine Süsse“ liest sich in einem Text von Hanna Johansen eher als Ausrutscher, als Peinlichkeit, allenfalls geht er als ironisches Zitat durch. Vor dem Hintergrund der Aufgabe indes, der sich die Autorin im Rahmen des vorliegenden ABCdariums freiwillig unterzogen hat, nämlich in einer durchgehenden Erzählung alle Wörter mit S beginnen zu lassen und das Spiel über ein Dutzend Seiten hinweg durchzustehen, liest sich der Satz ganz anders: Welche Wörter fallen der Schreibenden noch ein, wie kann ihr ein weiterer Satz, auch nur ein einziger zusätzlicher S-Satz gelingen? „So schmollt sie, seine Süsse“ wird zum Amüsement, zur vorläufig letzten in der Reihe extravaganter Wortfindungen, zur konsequenten Weiterführung des textimmanenten Formgesetzes.
In Matthias Zschokkes Erzählung sind die Namen der Personen und Orte zunächst nicht weiter auffällig. Erst vom Moment an, wo der Buchstabe F als heimlicher Fadenzieher und Mitregisseur erkannt ist, verfolgen wir die Fährte, die der Autor legt, bewusst und mit wachsendem Vergnügen. Die Hauptfigur Fritz kann Hans nicht heissen, das Café Felix nicht Café Beat, die Berliner Bekannte Filine nicht Ciline. Durch den Kontext, in dem die Erzählung steht, erklären sich deren Erzählmuster, und diese ermöglichen eine formale Transparenz, welche die inhaltliche Aussage ergänzt, ausweitet, bereichert.

Dick & Dünn
Die Frage, wie dick eine Literaturzeitschrift in Wirklichkeit ist, verwirrt seit je die Gemüter. Ist ein Titel identisch mit der einzelnen Ausgabe, vielleicht der neuesten? Gehört er also in die Kategorie Taschenbuch / Heft? Oder umfasst er die Gesamtheit aller bisher erschienenen Ausgaben? Dann stellt er ein Kompendium dar, an dem zahllose Autorinnen und Autoren mitgearbeitet haben. Ein vielbändiges Werk, das sich unterschiedlichster Themen annimmt und wo sich Dutzende Stile, Schreibweisen, Gattungen, Darstellungsarten kreuzen. Ein Nachschlagewerk, in dem sich über Jahre, Jahrzehnte weg Tendenzen ablesen, literarische Grundein-stellungen mitverfolgen, thematische Vorlieben ausmachen lassen. Eine unabgeschlossene Anthologie, die junge und ältere Schreibende mit einschliesst, wobei die gleiche Au-torin mit ihrem ersten Gedicht, mit Beiträgen aus reiferen Jahren, mit ihrer Altersprosa vertreten sein kann. Ihre Texte sind von gleich bleibender Frische. Denn die Auswahl erfolgte nicht im Nachhinein und im Rückblick, sondern im Fluss des je aktuellen Geschehens.

Duden
Neben Fremdwörterbüchern, Google, neben Typographie, Layout, Platzverhältnissen einer der vielen am endgültigen Aussehen der Texte heimlich Beteiligten.

Dada
Die dadaistische Bewegung schlug sich seinerzeit nicht in Romanen nieder, nicht in Lyrikbändchen, nicht auf der Bühne: einzig in Broschüren und Zeitschriften, von denen es gleichzeitig und in kurzer Folge gegen ein Dutzend gab. Die Form der Zeitschrift diente der Bewegung als Anschlag-brett zur Proklamierung ihrer literarischen Revolution. Eine ähnlich programmatische Bedeutung sollte das Medium im deutschsprachigen Raum erst um 1968 mit dem Boom der Untergrundliteratur wieder erfahren. Dann war es aus mit dem Propagandazeitalter. Der Literaturzeitschrift ist in härter werdenden Zeiten ein neues Tätigkeitsgebiet erwachsen, sie stellt heimatlos herumirrenden Texten einen Legitimationsschein aus und bietet ihnen vorläufiges Asyl.

Darwin
Auslese. Auslesen darf man, soll man sogar. Aber ausgelesen ist so bald nicht. Es geht weiter, entwickelt sich, verzweigt sich in verschiedene Arten, jede Nummer eine eigene Varietät.
Der Kampf ums Überleben. Wer sich am besten anpassen kann, überlebt. Sagen die, die sich angepasst haben. Die anderen lesen weiter.

Dumpingpreise
Literarische Zeitschriften werden ausnahmslos unter ihrem Preis verkauft. Selbst Subventionen reichen nicht aus, jene Beteiligten anständig zu bezahlen, welche die Zeitschrift tragen: die Autorinnen, Autoren, Künstlerinnen, Herausgeber. Die viel zu tiefen Preise wirken wettbewerbsverzerrend. Die Konsumenten gewinnen den Eindruck, ein Jahresabonnement sei nicht mehr wert als ein Nachtessen mit billigem Wein in einem Lokal mittlerer Preisklasse. Sie beachten nicht, dass jedes Heft eine spezielle Menufolge mit Zutaten direkt ab Bauernhof, frisch ab Markt zusammenstellt. Nährt, ist gesund und macht nicht dick! Führt zu keinem dummen Kopf, hindert nicht am Autofahren, bremst nicht im Bett.

Dienerschule
Hat nichts mit Literaturzeitschriften zu tun. Oder doch? Im Unterschied zu den Kulturjournalisten im Sold der gängigen Printmedien brauchen die Redaktoren einer Literaturzeitschrift vor keinem Verlagshaus, keinem Grossinserenten, keiner Interessengruppe Bücklinge zu machen. Verbeugen tun sie sich durchaus, vor jedem schönen Text.

Damit
Damit auch Autoren eine Chance haben, die keine Chance haben. Damit auch Texte ein Publikum finden, die kein Publikum finden. Damit Leser auch Texte entdecken, Autorinnen entdecken, die sich nicht, und immer weniger, entdecken lassen.


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Michel Mettler

Pippin der Letzte

1
Pippin tritt zum Schrank, öffnet ihn und entnimmt mit Schwung und jener bildgewordenen Könnerschaft, die auf reiche Erfahrung schliessen lässt, zwei rundliche schwarze Hüte. In Betrachtung versunken hält er sie vor sich hin. Dann wiegt er sie unter Ausstossung anerkennender Gurrlaute in Händen. Den einen setzt er auf, den andern hält er in jener Pose vor sich hin, die der noble Herr einnimmt, nachdem er sich mit Handkuss von der Dame des Hauses verabschiedet hat.
Nun beobachten wir Pippin in untadeligem Abendtenue, dessen einzig pikantes Detail ein überzähliger Hut in seiner Rechten ist; wir beobachten ihn, wie er mit einem Ruck rechtsumkehrt macht, ein tributzollendes Nicken versucht und mit der Linken den Hut zieht – vor dem überzähligen zweiten, wie es scheint, und unter dezenter Andeutung eines Dieners in unsere Richtung. Mit der Rechten setzt Pippin nun den ungetragenen auf, während der eben getragene in der vorgestreckten Linken verbleibt.
»Pippin, sehr erfreut«, sagt Pippin an die Luft vor seinem Gesicht gewandt, »Pippin der Letzte.« Er stellt sich der Welt als mutmasslich erster Zweihutträger der Geschichte vor, er sagt: »Man erlaube mir anzumerken, dass meines bescheidenen Wissens niemand zuvor zwei Hüte auf einmal getragen hat.« Sagt’s und setzt diesem Umstand sogleich ein Ende, indem er beide Hüte mit vollendet synchronen Armbewegungen auf die Hutablage legt, wo alsbald ein Bild zweisamen Friedens entsteht, ein Bild, das Pippin kurz mit einem Ausdruck von Genugtuung betrachtet. Nun aber grüsst er Decken und Wände des Zimmers und entschwindet, um fürs erste diesen Ort zu verlassen, im Schrank, nicht ohne in mustergültiger Dezenz die Tür hinter sich zuzuziehen.

2
Mit chinesischer Tusche hat Pippin seine Knie schwarz ein-gefärbt. In den bunt bedruckten Bermudas seiner Neuruppiner Jahre steht er am Ufer eines Westschweizer Sees, reglos im Untiefen. Er wartet – andächtig, wie sensible Beobachter seiner Miene entnehmen können – auf ein Ereignis, das sich vom nördlichen Horizont her nähern soll.
Malerisch umspielt das Wasser Pippins Waden. Die türkisen Chinchillas auf seiner Hose scheinen zu blinzeln, die glimmergespickten Fächerpalmen seines Hawaihemds funkeln im Licht des höchsten Sonnenstands. Pippins Blick ist in die Ferne gerichtet, so wie wir es von den Schinken kennen, die Krieger und Pioniere nach der triumphalen Heimkehr zeigen: Nachdenklich ist dieser Blick und in die dunklen Farben des Schreckens und der Gleichgültigkeit getaucht.
Mit jener bildgewordenen Finesse, die den Weitgereisten verrät, will Pippin ein Tier fangen, halb Vogel, halb Fisch, eine äusserst geheimnisvolle Kreatur. Er hat viel von ihr ge-hört und noch mehr über sie gelesen. Kein Mensch konnte bisher ihrer habhaft werden, doch einige Glückliche haben sie kurz erblickt und der Welt davon Kunde getan.
Dieses Lebewesen – Pippin nennt es bei sich selbst das Spoïc, obgleich sein Name in der Fachsprache anders lautet –, dieses Flugtier soll Experten zufolge ein Relikt früher Zeiten sein. Im Lauf seiner Entwicklung habe es nie gelernt, zwischen Symbol und Wirklichkeit zu unterschei-den, so die Wissenschaft, weshalb es etwa zwei schematisch dunkle Punkte mit der nämlichen Fresslust anfliege wie die zwei Köpfe des Doppelreihers, seines bevorzugten Beutetiers.
Pippin hat mit Verhaltensforschern gesprochen und weiss, dass das Spoïc zwanghaft die zwei Reiherkopfpunkte fixieren muss, wo auch immer sie sich zeigen und gleichviel, ob es die geschwärzten Knie eines Unentwegten oder die aufeinander zugleitenden Gondeln einer Schwebebahn sind. Deshalb hat Pippin hinter sich ein Netz aufgespannt, worin das Wesen sich verfangen soll, nachdem es zwischen seinen Knien auf Futtersuche gegangen ist.
So steht Pippin unter Ausstossung langgezogener Lockrufe einige Stunden im Wasser, bis er seinen Versuch für beendet erklärt, um im nahegelegenen Hôtel de la Paix friedvoll eine Fischmahlzeit einzunehmen. Er wird sein Erlebnis für die Nachwelt festhalten.

3
Als geheime Attraktion eines Firmenessens betritt Pippin das Herrenzimmer eines Jagdschlosses mittlerer Kategorie – an seiner Seite je links-rechts eine vollauf gerundete Dame im Kleinen Schwarzen. Die Köpfe der speisenden Herren wenden sich folgsam der unverhofften Trias zu, und Pippin, mit der Ausholbewegung dessen, der zum wohlgesetzten Toast anhebt, entsendet mit je einem langen Arm die beiden kugeligen Damen tischwärts.
Nun scheint der Raum jählings an Abschüssigkeit zu gewinnen, die Damen machen Anstalten, auf die Tafel zuzurollen, in Pippins Augen wachsen sie rasch an, bereits wälzen sie sich als riesig schwarze Murmeln auf die Tischgesellschaft zu. So wie sie binnen Sekunden zu kolossaler Grösse aufgeschossen sind, schnurrt gegengleich die Tischgesellschaft rasend schnell zusammen: Schon droht all das Tafelsilber dieses gesitteten Abends zermalmt zu werden, bereits knirschen die ersten Fliesen, der Tisch bricht krachend zur Seite, Herren schnellen wie Springteufel überkreuz vor dem Vernichtungspaar hin und her –
Zu Pippins masslosem Ergötzen bleibt nichts Essbares, nichts Tischnahes, nicht einmal ein malerisch aufgeplatzter Herr im Frack zurück. Hingegen ist die zuvor schon merkliche Delle in der Saalmitte etwas tiefer geworden, während die beiden Damen als doppelte Abrissbirne durch die Nordwand des Gebäudes brechen, unaufhaltsam weiterrollend, entlegenen Gebieten zu, bald schon nurmehr als stecknadelkleine Punkte am Horizont der Mauerlücke sichtbar, während Pippin unter Ausstossung kehliger Wohllaute den Gipsstaub von seiner Weste klopft.

4
Wir betreten Pippins Schlafzimmer, wo wir denselben stehend vor dem Spiegel antreffen. Er balanciert mit sichtlicher Anstrengung eine grosse Hantel vor seiner Brust, deren Gewichtskugeln je eine Inschrift zeigen: Ohne mich! die linke, Bin leider verhindert die rechte.
Pippin arbeitet hart an der Wiedererlangung seiner Fähigkeit, Erwartungen zu enttäuschen, Wünsche abzuschlagen und auch geringfügige Ansprüche mit Verachtung zu strafen. An jungen Leuten bewundert er die Nonchalance, mit der sie kommentarlos absagen oder auch nur abwinken mit einem kurzen, welken Flattern der Hand. Auch die scharfrichterliche Schnittbewegung des Unterarms, die jede weitere Begehrlichkeit unterbindet – zu beobachten vor allem bei subalternen Beamten –, wird von Pippin neidvoll bestaunt. Das Kopfschütteln der Zielstrebigen hat es ihm angetan, ebenso die barschen Worte, mit denen sprechmüde Führungskräfte Telefonate beenden, als verscheuchten sie eine lästige Fliege von ihrem Unterarm.
Leider steht Pippin unter dem schweren Zwang, jede Einladung mit verschnörkeltem Abwimmelbrokat zu parieren. Er ist ein Akrobat der Rechtfertigung; seine Erklärungssuaden sind stadtbekannt. Das Unerbetene hält ihn in Atem, es lockt seinen Hang zu feinziselierten Ausflüchten hervor. So haben Passanten beobachtet, wie er sich mit Hausierern auf nächtelange Dispute einliess, und da er ja weiss, dass er Bettler selbst nach Stunden fruchtloser Unterredung nicht abschütteln kann, bedenkt er sie zum voraus mit übergrossen Almosen.
So arbeitet Pippin an seiner verloren gegangenen Fähigkeit, abschlägigen Bescheid zu geben, Zudringlichkeiten mit Hauptsätzen abzuweisen, ja überhaupt erst seine Antworten mit NEIN beginnen zu lassen. Vor dem Schlafzimmerspiegel versucht er unter Ausstossung gepresster Wehlaute, seinem Mund das Absagewort näherzubringen.
Zu diesem Behufe hat er sich einen Satz altertümlicher Hanteln anfertigen lassen. Tut mir leid, steht auf ihren Gewichtskugeln, Muss absagen, Ganz unmöglich!, Kommt nicht in Frage oder, als Krönung, Auf gar keinen Fall!
Pippin steht vor dem Schlafzimmerspiegel, neben sich auf Gestellen, die wir aus Kraftsportstudios kennen, die Hanteln. Nun werden ab Band dreiste Avancen und Anträge eingespielt. Pippin greift sich je ein passendes Doppelgewicht, stemmt es und entziffert beschwerlich die Spiegelschrift. Diese Kombination körperlicher und geistiger Mühen entbindet ihn so wirksam von seinem Begründungszwang, dass er schon nach wenigen Tagen fähig ist, sich vom Text zu lösen, die Hantel fallen zu lassen und zu brüllen: Es reicht!
(…)


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