Mein Vater lehnte, wie gewöhnlich,
an der Theke, die Hand an einem Bier, und sagte:
Ich, der ich Bescheid weiss über den unfreiwilligen Hunger,
werde dir jetzt etwas über das Brot erzählen.
Du weisst, wir sind eine Familie von Bäckern, du hast
darüber geschrieben, das war alles sehr schön, die
Backstube hinten im Hof, nur durch eine Mauer vom Bach getrennt
etcetera, aber lass mich ein paar Einzelheiten ergänzen.
Ich habe darüber auch einen Eintrag in einem Online-Lexikon
verfasst, du kannst ihn dort nachlesen, aber ich kann ihn
dir auch zusammenfassen, denn das meiste habe ich, während
ich es schrieb, auswendig gelernt. (Béla, sagte einmal
eine Frau zu mir, du hast eine Gabe: Du sprichst wie gedruckt.
Mach was daraus. – Steht an der Theke, Hand an Bier,
und spricht:)
Brot ist das Hauptnahrungsmittel der Menschheit, alle anderen
Lebensmittel gruppieren sich um das Brot. Das war in allen
Zeiten und ist in allen Kulturen so. Das beste Brot macht
man aus Weizen und Roggen, in zweiter Linie aus Gerste, Hafer
und Mais. Die Güte der Hausfrau misst sich an der Qualität
ihres hausbackenen Brotes. Unser Land ist die Heimat des guten
Brotes. Unser Brot ist europaweit berühmt. Das liegt
zum einen an der guten Qualität unseres Mehls (in Klammern:
wie die Güte unseres Bieres eine direkte Folge der Güte
unseres Wassers ist; nimmt einen grossen Schluck) und zum
anderen, natürlich, an unserer Begabung für alles,
was einfach, rein und ursprünglich ist.
Brot aus Weizenmehl ist heller und trockener als das aus Roggenmehl,
letzteres verlangt ein kräftigeres Kneten und ein längeres
Backen bei stärkerer Hitze. Gutes hausbackenes Brot macht
man auf folgende Weise:
Am Vorabend des Backens siebt man das Mehl, gibt es in eine
Holzwanne oder eine Tonschüssel. In die Mitte drückt
man mit der Hand eine Kuhle, gibt den mit lauwarmem Wasser
vermischten Sauerteig hinein und verarbeitet ihn sanft mit
etwas Mehl. Zugedeckt an einem lauwarmen Ort bis zum nächsten
Morgen stehen lassen. Am nächsten Morgen, 3 Stunden vor
dem Backen, vermischt man den Teig mit Hefe, etwas Salz, Kümmel
oder Anis, und gibt zu 8 Litern Mehl etwa 4 Liter Wasser.
Diese Mischung knetet man eine gute Viertelstunde. Brot aus
Weizenmehl kann man in der Schüssel aufgehen lassen,
Roggenbrot nimmt man sofort heraus, formt einen Laib und legt
diesen in den mit einem bemehlten Brottuch ausgelegten Brotkorb,
wo man ihn 2,5 bis 3 Stunden gehen lässt. Der aufgegangene
Brotteig ist etwa doppelt so gross wie vor dem Gehen. Man
bäckt ihn 2 Stunden lang bei gleichmäßiger
Hitze.
Unsere Familie bevorzugt die Methode des Steinofenbrotes.
Dazu heizt man den gemauerten Ofen einige Stunden lang mit
Holz auf, bis die Steine glühen. Dann entfernt man die
Asche aus dem Ofen und stellt stattdessen den in Holzschüsseln
gelegten Brotteig hinein. Man kann die Laibe auch direkt auf
die Steine legen – diese erkennt man später an
der grauen Asche an ihrer Unterseite. Die Kruste ist bei einem
Brot das A und O. Die Brote, die du bei dir im Laden kaufen
kannst, sind meist nicht gut genug durchgebacken, deswegen
trocknen sie so schnell aus, und du musst jeden Tag hinrennen
und ein neues kaufen. Wohingegen unser Brot mindestens eine
Woche hält.
Lass mich nichts dazu sagen, was heutzutage alles in einem
industriell gefertigten Brot ist, ich will dir nicht den Appetit
verderben.
Über den Geruch frischen Brotes muss ich dir nichts erzählen.
Obwohl jemand geschrieben hat, er habe von jemandem gehört,
in großen Mengen sei das ein unerträglicher Gestank.
Ich kann das weder bestätigen noch widerlegen. Mir ist
noch nie so eine grosse Menge begegnet. Wir waren nur eine
kleine Backstube. Hast du dir schon mal die Zunge an Brot
verbrannt?
Solange es noch lauwarm ist, esse ich es für meinen Teil
am liebsten nur mit einer Prise Salz, das bringt den Geschmack
am besten hervor.
Später nehme ich gerne etwas saure Sahne, Kräuterquark
oder auch Schmalz und Schnittlauch, Paprikaschoten oder Tomaten.
Salami, wenn man hat.
Wenn ich sehr hungrig bin, weil ich zum Beispiel den ganzen
Tag unterwegs war, schneide ich das Brot nicht, sondern greife
mit einer Hand hinein und reisse ein Stück heraus, das
ich mir gierig in den Mund stopfe, während ich mit der
anderen Hand den Sliced Bacon aus der Packung fummele, und
oh, wieso habe ich keine dritte Hand, mit der ich die Paprikaschote
halten könnte, um ihr die Spitze abzubeissen? Früher
gab es natürlich keinen Sliced Bacon, wir führten
Bauchfleisch und in Paprika gewälzten Speck in Butterpapier
mit uns, den wir mit dem von unsrem Grossvater geerbten Taschenmesser
schnitten. Da ich der älteste bin, hatte ich ein Vorrecht
auf das Messer, ebenso wie auf den Wetzstein, die Schweizer
Uhr und später den Siegelring, der mir nur auf dem Zeigefinger
passt. Für die Uhr habe ich, als das modern war, ein
Metallgliederarmband gekauft, da brach der kleine Metallstab
heraus, an dem man normalerweise das Lederband befestigt,
und ich verlor die Uhr. Ebenso das Messer. Das war irgendwann
während meiner illegalen Grenzüberquerung. Das hat
mich sehr getroffen, ausgerechnet während der Flucht
das Messer zu verlieren. Es ist mir wohl aus der Hosentasche
geglitten, jetzt liegt es irgendwo auf einer Wiese in den
Bergen des Dreiländerecks.
Bis zu diesem Zeitpunkt kannte ich nur Weissbrot. In Deutschland
lernte ich dann brauneres Brot kennen. Ich gebe zu, Mettwurst
schmeckt gut mit Graubrot. Übrigens war das erste Essbare,
das ich mir im Westen gekauft habe, ein Sesambrötchen,
und ich habe es sogleich bereut. Es war, ohne Übertreibung,
das Schlechteste, was ich je gegessen habe. Als zweites versuchte
ich ein Käsebrötchen, aber das war dasselbe. Später
lebte ich eine Weile von einer Leberwurstkonserve oder, zur
Abwechslung, einem Paar Wiener (in Wien: Frankfurter) Würstchen
am Tag, das schmeckt mit jeder Art von Brot gut, und nicht
nur, wenn man hungert. Sogar mit Knäckebrot, was eine
seltsame Sitte ist, aber eine Weile gab es bei uns um die
Ecke welches mit Käse und Kürbiskernen zu kaufen,
das war nicht schlecht.
Später, als ich, bedingt durch meine Arbeit, anfing,
herumzureisen, ass ich Austern in Bordeaux mit gesalzener
Butter auf Graubrot, in Brest Schnecken in Kräuterbutter,
diese verlangen allerdings wieder eher nach hellem Brot, während
der Räucherlachs, den ich in Bergen gegessen habe, gut
mit schwarzem Brot schmeckt. Vergegenwär-tige dir den
nussigen Geschmack von Pumpernickel mit Schmelzkäse –
wenn ich auch zugeben muss, dass ich nur etwa einmal im Jahr
Appetit darauf bekomme.
In Bergamo röstete ich das Ciabatta mit etwas Olivenöl
in der Pfanne, das schmeckt sowohl mit trockenem als auch
mit frischem Brot. In den seltensten Fällen lasse ich
es mir nehmen, etwas Knoblauch draufzuschmieren und Rotwein
dazu zu trinken. In meiner Kindheit nahmen wir dafür
natürlich unser eigenes, eine Woche altes Brot. Von einem
Toaster hatte noch nie einer was gehört und auch nicht
von Olivenöl. Öl galt damals generell als eine stinkende,
künstliche Sache, die sich nur Dummköpfe, ahnungslose
Stadtmenschen aufschwatzen liessen. Wir nahmen natürlich
Schweineschmalz, und davon nicht wenig, wir waren fettig bis
hinter die Ohren. Je trockener das Brot war, umso besser liess
sich die Knoblauchzehe darauf verreiben. Wir Brüder standen
im Wettbewerb miteinander: eine Knoblauchzehe pro Scheibe
zu nehmen war Ehrensache. Wir durften noch keinen Wein und
keinen Schnaps trinken, was ein Fehler war, denn nicht nur
einmal mussten wir vom fettigen Brot und dem vielen Knoblauch
kotzen. Dennoch assen wir es immer wieder gerne.
Oft machten wir uns, wenn wir alleine zu Mittag essen mussten,
auch etwas, was wir Brot im Pelz nannten, im Westen heisst
es wohl French Toast, wenn mich nicht alles täuscht.
Man wende Weissbrot in mit Milch verquirltem Ei und brate
es in Butter (wir damals natürlich ebenfalls in Schweineschmalz).
Auch dazu schmeckt Knoblauch, aber, und das ist das Geniale
daran, auch Marmelade. Meine Lieblingsmarmelade ist die aus
Aprikosen, auch meinen Lieblingsschnaps, den Barack, macht
man daraus.
Unvergleichlich ist das Brot, das man beim Lagerfeuer unter
den schwitzenden Speck hält, dieser russige Geschmack.
Später habe ich auch das Grillen kennen gelernt, auch
dieses Brot ist gut.
Gib verschimmeltes Brot niemals Tieren zum Fressen und iss
es auch selber nicht. Bewahre Brot nicht im Kühlschrank
und nicht in einer Plastiktüte auf. Am besten ist ein
Keramikgefäss, obwohl ich zugeben muss, dass ich selbst
nie eins besessen habe. Ich habe eins, wo Zwiebeln draufsteht,
aber das ist zu klein.
Du fragst, warum ich dir das alles erzähle? Nun, vielleicht
hast du gehört, dass mein Bruder, dein Onkel also, der
die Backstube übernommen hat, beschlossen hat, die Holzofenmethode
aufzugeben. Gestern waren den ganzen Tag Leute da, die einen
Gasbackofen installiert haben, und ich muss dir sagen, dass
mich das sehr empört, obwohl ich im Allgemeinen nicht
zu denen gehöre, die gegen den Fortschritt sind. Deswegen
habe ich meinem Bruder auch nicht gross Steine in den Weg
gelegt, das kann ich gar nicht, aber als ich das erste neue
Brot kosten sollte, versagte ich. Ich nahm zwar, wie die anderen,
ein Stück des Brotes, hielt es mir auch vor Nase und
Mund, aber ich schaffte es nicht mehr, hineinzubeissen. Ich
roch nur daran. Es roch anders, es roch nicht nach Asche,
auch die Kruste war weicher, das ganze Brot war heller, und
die, die es gekostet haben, haben gesagt, dass es auch etwas
trockener und salzloser schmeckte, was allerdings nicht am
neuen Ofen liegen musste. Der letzte Ballen Salz, den er gekauft
habe, sagte mein Bruder, dein Onkel, scheint nicht viel zu
taugen. Ausserdem sagte er, dass der Ofen erst eingebacken
werden muss, die nächste Charge wird bestimmt besser,
und die übernächste noch besser. Ich nickte und
hatte mein Brotstück schon verkrümelt, teilweise
in meine Hosentasche, teilweise auf den Boden, ich glaube,
er hat nichts bemerkt. Seitdem, fast einen ganzen Tag schon,
konnte ich nichts mehr essen. Denn was ich auch immer hätte
essen wollen, zu allem hätte ich Brot essen wollen, aber
seitdem das Brot meines Bruders anders geworden ist, habe
ich das Vertrauen in alle Brote verloren. Du wirst wahrscheinlich
wieder sagen, dass ich mich kindisch verhalte, aber dein Vater
ist eben ein sensibler Mensch, ein sehr sensibler Mensch.
Nudeln, sagte ich. Du könntest Nudeln essen. Oder Reis.
Dazu isst man kein Brot.
Nudeln, sagte er. Reis. Ich kleb dir gleich eine.
(Er war schon sehr betrunken.)
Ich habe Hunger! brüllte mein Vater, schwankend, in seiner
Hand ein leeres Glas. Es wurde ihm wieder aufgefüllt,
das beruhigte ihn. Danke, sagte er artig. Und zu mir: Du hast
recht, man muss sich nur einmal überwinden. Die Küche
hat schon zu, aber frag doch mal nach, ob sie vielleicht noch
ein paar Brotreste dahaben, die geben sie mir vielleicht sogar
umsonst, ich trinke solange dieses Bier hier.
Danke, meine Tochter, dass du mir Brot gebracht hast, es ist
tatsächlich das neue Brot meines Bruders, ich erkenne
es, es ist zu hell und zu trocken, aber ich habe jetzt eine
Lösung, schau. Ich habe mir einen Barack bestellt, da
tunke ich es ein. Manche Leute halten das Tunken im Allgemeinen
für nicht schicklich, aber das ist mir egal. Probier
mal, lutsche es richtig aus, spürst du, wie die Flüssigkeit
in den kleinen Löchern, eigentlich sind es Waben, hin
und herwandert? Jetzt fühle ich mich wie ein alter Grieche.
Wusstest du, dass ihr Frühstück aus Brot bestand,
das sie in mit Wasser verdünnten Wein eintunkten? Wenn
ich jetzt aber auch noch Wein trinke, ergeht’s mir wirklich
schlecht, fürchte ich, mir ist sowieso schon ganz schwindlig.
Ich hatte schon zu viele Biere und, ja, ich habe auch wieder
zuviel geredet, und leider auch etwas durcheinander, aber
du, die du aus meinem Blute bist, verstehst mich, nicht wahr.
Du verstehst, was ich dir sagen will, wenn ich sage: das Brot
ist die Essenz unseres Lebens, es ist wichtiger, als alles
andere, wichtiger noch als Religion, nicht umsonst hat auch
der gute Jesus gesagt, sein Leib sei ein Brot, er wusste schon
wieso. Mein Leib ist kein Brot, leider, er ist nur Fleisch
und Blut, Knochen und Sehnen, aber darüber erzähle
ich dir ein anderes Mal. Ich bin müde, meine Tochter,
bringst du mich nach Hause, oder schämst du dich für
mich? Und könntest du bitte die Biere und den Barack
bezahlen, während ich mit meinem feuchten Zeigefinger
die letzten Brosamen aus dem Körbchen tunke? Ein paar
behalte ich unter dem Fin-gernagel und trage sie so nach Hause,
damit ich sie vorm Einschlafen knabbern kann, den süssen
Geschmack von mit etwas Schmutz vermischten Krümeln,
und wenn ich Glück habe, träume ich vielleicht was
Schönes, vom Essen natürlich, wovon sonst, vom Trinken,
oder, diese Nacht halte ich es für möglich, vielleicht
sehe ich im Traum, wo Bicska liegt, das Taschenmesser, das
ich auf den Bergwiesen des Dreiländerecks verloren habe.
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