Nummer 123 Zurück zum Archiv

Schiller, remixed

Erscheinungsdatum: November 2005

Auszüge:
Inhaltsverzeichnis
Über dieses Heft
Martin Zingg: Fisimatenten
Friedrich von Schiller: Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache
Ulf Stolterfoht: fleischiges beispiel für eine verleibung
Jürg Laederach: An Rogers Stelle
 
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Inhaltsverzeichnis

(Unterstrichene Texte können angewählt werden)

Liebe Leserinnen, liebe Leser
Martin Zingg: Fisimatenten
Schiller, remixed

Friedrich Schiller: Merkwürdiges Beispiel
Zsuzsanna Gahse: Aktennotiz
Ulf Stolterfoht: fleischiges Beispiel
Jürg Laederach: An Rogers Stelle
Ilma Rakusa: Madame P und Marquis A
Renata Burckhardt: Café Monolog
Urs Allemann: Lieber B***
Christoph Bauer: das hündchen
Lisa Elsässer: heute wie damals
Elisabeth Wandeler-Deck: Etwas wie Nachflimmern
Rudolf Bussmann: Teestunde

Fände er das Wort
Markus Bundi: Gedichte
Friederike Kretzen: Wir sind schon
Besprechungen und Hinweise
Werner Morlang über Sabina Naef
Markus Bundi über Felix Philipp Ingold
Elsbeth Pulver über Hans Boesch
Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren
Die Autorinnen und Autoren
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Über dieses Heft

Liebe Leserin, lieber Leser,

Schiller? Noch immer? Und noch einmal in diesem verschillerten Jahr? Ja. Denn es gibt Autoren und Texte, die suchen und pflegen Verwandtschaften. Gedichte verweisen auf Gedichte, Prosa nimmt auf Prosa Bezug: Die Literatur kennt viele Geschichten, die auf andere Geschichten reagieren.
Eines der ungewöhnlichsten Beispiele dafür ist Friedrich Schillers Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache. Der Text stammt ursprünglich aus Jacques le Fataliste von Denis Diderot. Als Diderot 1784 starb, gelangte eine Abschrift des Romans in den Besitz des Mannheimer Intendanten von Dalberg, der sie an Schiller zur Übersetzung weitergab. Schiller interessierte sich so sehr für die darin enthaltene Geschichte der Frau von Pommeraye, dass er nur gerade sie übersetzte. Unbekümmert um die komplexe Erzählstruktur von Diderots Roman verschlankte er die Geschichte zudem auf rund zwei Drittel des französischen Originals. Die »Übersetzung« trug schliesslich so deutlich seine Handschrift, dass sie wenige Jahre später ins Französische rückübersetzt wurde.
Soll man, was Schiller mit Diderot tat, nicht auch mit Schiller tun dürfen? Wir legten den Beginn seiner Übersetzung/Eigenkomposition einigen Autorinnen und Autoren in der Erwartung vor, dass diese den Text auf eigene Weise umformten oder weiterschrieben. Aus der Vorlage entstanden eine Reihe origineller, zumeist in engem Bezug zu Schillers Geschichte stehenden Texten, die, angefangen bei der Parodie bis hin zum handfesten Remix, ein buntes Angebot von Spiegelungen und Anspielungen vorführen.
Schiller lebe wie nie zuvor, wurde dieses Jahr behauptet. Tatsächlich ist in unserem Heft nachzulesen, wie leicht der inspirierende Funke seines Werks nach wie vor springt.
Sie finden darin auch neue Texte von Friederike Kretzen, … und Katharina Geiser sowie Hinweise auf neu erschienene Bücher von Schweizer Autorinnen und Autoren. Wir danken den Schreibenden für ihre Texte und dem Basler Künstler Thomas Dettwiler für seine Pinselzeichnungen.

Rudolf Bussmann und Martin Zingg

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Martin Zingg

Fisimatenten

Es gibt Themen, die bleiben durch eine gewisse Kommentarresistenz gleichsam glossenuntauglich. Man kann es bedauern und dann wenden, wie man will, hinnehmen muss man es dennoch. Eine Glosse über Schiller etwa? Wäre Schiller ein Thema? Zu kommentieren oder gar zu kritteln gibt es da nun gar nichts, Herr Schiller ist in diesem Jahr sehr ausgiebig gefeiert worden und hat, wie es aussieht, alles prima überstanden. Es gab etliche neue Biographien, Auswahlbände, unzählige Untersuchungen zu Teilaspekten seines Schaffens, einige Hörspiele, nicht übermässig viele Theaterinszenierungen. Es gab allerhand Parodiebemühungen, Marathonlesungen quer durch das ganze Werk, Ausstellungen gab es, aufgeregte Debatten, selbst das längst totgeglaubte und für einen Abend wiederbelebte »Literarische Quartett« feierte ihn, und die Frankfurter Allgemeine Zeitung druckte Das Lied von der Glocke in voller Länge ab und brauchte dafür eine ganze Seite ihrer bekanntlich riesigen Seiten.
Schiller geht in Ordnung, das bestätigen sogar Umfragen bei jüngeren Literaturkunden und -kundinnen, die von diesem Autor gewöhnlich nicht viel wissen, ihm aber durchaus wohlwollend gegenüberstehen.
Eine Glosse gibt das nicht her, auch nicht die Tatsache, dass Herr Schiller mit der Schweiz gegenwärtig ein wenig Pech hat. Zwar wurde auch hier seiner gedacht, versteht sich, aber richtig ins eidgenössische, ins parlamentarisch animierte Herz mochte man den schwäbischen Dichter doch nicht schliessen. Herr Schiller, 1792 vom französischen Nationalkonvent zum Ehrenbürger der Republik ernannt, darf nämlich 200 Jahre nach seinem Tod nicht Ehrenbürger der Schweiz werden – dafür, befand das eidgenössische Parlament in der Sommersession, sei es »zu spät«.
Das ist natürlich schade. Denn womöglich wurden hier gleich zwei Seiten falsch verstanden, Herr Schiller und die Idee vom Ehrenbürgerrecht, aber was soll's. Also muss man die Angelegenheit schnell wieder kehren. Denn: Einmal abgesehen davon, das es für die Verleihung des Ehrenbürgerrechtes wohl nie den passenden Zeitpunkt gibt – muss die Schweiz eigentlich den Schiller lieben? Muss sie nämlich nicht, nein, keineswegs, die Schweiz muss bekanntlich gar nichts, und ganz sicher muss sie nicht ausgerechnet einen Autor lieben, der sich nicht ein einziges Mal die Mühe gemacht hat, dieses Land zu besuchen.
So ist das.
Und ja, wie das nun sei mit dem Wilhelm Tell, wird man gleich einwenden wollen. Sozusagen ein Nationaldrama, oder etwa nicht etc. Ja, durchaus. Aber halt doch nur importiert, wie so vieles, worauf die Eidgenossen stolz sind, und wenn alle Importeure von typisch schweizerischen Produkten das Ehrenbürgerrecht erhalten sollten, dürfte es mit der Zeit doch etwas, na, schwierig werden.
Auch das kommt gut ohne Kommentar aus.
Ohnehin ist ja Herr Schiller längst der unsere, auch ohne offizielle Papiere, er ist unsterblich unser, und er war das immer schon. »Die Unsterblichkeit«, notierte Karl Kraus einmal, »ist das einzige, was keinen Aufschub verträgt«. Und ein Ehrenbürgerrecht kommt immer zu spät.


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Friedrich von Schiller

Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache

Der Marquis von A*** war ein junger Mann, der seinem Vergnügen lebte, liebenswürdig und angenehm, der aber übrigens so so von der weiblichen Tugend dachte. Dennoch fand sich eine Dame, die ihm ziemlich zu schaffen machte; sie nannte sich Frau von P***, eine reiche Witwe von Stande, voll Klugheit, Artigkeit und Welt, aber stolz und von hehrem Geist.
Der Marquis brach alle seine vorherigen Verbindungen ab, um nur allein für diese Dame zu leben. Ihr machte er den Hof mit der grössten Geflissenheit, brachte ihr alle ersinnliche Opfer, sie von der Heftigkeit seiner Neigung zu überführen, und trug ihr endlich sogar seine Hand an. Aber die Marquisin, die es noch nicht vergessen konnte, wie unglücklich ihre erste Heirat gewesen, wollte sich lieber jedem andern Ungemach des Lebens als einer zweiten aussetzen.
Diese Frau lebte sehr eingezogen. Der Marquis war ein alter Bekannter ihres verstorbenen Mannes gewesen; sie hatte ihm damals den Zutritt gestattet und auch nachher verschloss sie ihm ihre Türe nicht.
Die weibliche Sprache der Galanterie konnte an einem Manne von Welt nicht missfallen. Die Beharrlichkeit seiner Bewerbung, von seinen persönlichen Eigenschaften begleitet, seine Figur, seine Jugend, der Anschein der innigsten wahrhaftigsten Liebe und dann wiederum die einsame Lebensart dieser Dame, ein Temperament, zur zärtlichen Empfindung geschaffen, mit einem Wort alles, was ein weibliches Herz nur verführen kann, tat auch hier seine Wirkung. Frau von P*** ergab sich endlich nach einer monatlangen fruchtlosen Gegenwehr und dem hartnäckigsten Kampf mit sich selber. Unter den gehörigen Formalitäten eines heiligen Schwurs war der Marquis der Glückliche – er wäre es auch geblieben, hätte anders sein Herz den zärtlichen Gesinnungen, die es damals so feierlich angelobte und die ihm so zärtlich erwidert wurden, getreu bleiben zu wollen.
Einige Jahre waren so dahingeflossen, als es dem Marquis einfiel, die Lebensart der Dame etwas einförmig zu finden. Er schlug ihr vor, in Gesellschaft zu gehen, sie tat's – Besuche anzunehmen, sie willigte ein – Tafel zu geben, auch darin gab sie ihm nach. Endlich und endlich fing ein Tag, fingen mehrere Tage an, zu verstreichen, und kein A*** liess sich sehen. Er fehlte bei der Mittagstafel – beim Abendessen. Geschäfte drängten ihn, wenn er bei ihr war; er fand für nötig, seinen Besuch diesmal abzukürzen. Wenn er kam, murmelte er eins, zwei Worte, streckte sich im Sofa, ergriff etwa diese oder jene Broschüre, warf sie weg, schäkerte mit seinem Hund oder schlief zuletzt gar ein. Es wurde Abend – seine schwächliche Gesundheit riet ihm, zeitlich nach Hause zu gehen, das hatte ihm Tronchin ausdrücklich befohlen, und Tronchin, das ist wahrhaftig und wahr, Tronchin ist ein unvergleichlicher Mann – und damit nahm er Stock und Hut und wischte fort, vergass in seiner Zerstreuung auch wohl gar, Madame beim Abschied zu umarmen. Frau von P*** empfand, dass sie nicht mehr geliebt ward; aber sie musste sich überzeugen, und das machte sie ohngefähr auf folgende Art:


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Ulf Stolterfoht

fleischiges beispiel für eine verleibung

schon schlächtig aber wie? so so: in ungemachs lasten-
der sprach. du aber griffst zur broschur / lächeltest nur /
und streichelst stattdessen den hund. frei heraus: findst
du mich minder lyrisch denn dann? oh mann! deine me-
tren scheinen in teilen vergebens gepflanzt. angeranzt.
man könnte sie für zufall halten. ansonsten glaub ich
wohlgetan: du nahmst die sprache der dt. mystiker an.
szenarien klaustrophobischer kompressionsphantasien.
zum niederknien. du bist der lüderlichste bub am markt.
junger körper – geladen mit wut. ganz stark. da kam der
tag: die feder tüchtig spielen zu lassen. hier aus dem kiel
des verstorbenen diderot destilliert / etwas verwirrt: ihr
uralten schweden / habt neuerdings gut reden. doch wis-
set: die religion ist etwas herrliches! subvers 1: meine
klerikal erhitzten vormittage sind wesentlich schöner als
eure total durcherotisierten nächte. subvers 2: es verblei-
ben süsse siebzehn lenze sie allerlieblichst wegzufröm-
meln. fiese frage: waren sie nie in versuchung quietist zu
werden? gab mit kaltsinn zur antwort: auf treu! ein mon-
strum von undank müsste ich sein. schon wandelt die ge-
lust mich an. und kein beschrieb erreichte das entzücken.
man lag in siediger verschlingung – zu welcher ein gichti-
scher schlucken sich keucht. engmaschiges gewebe. hundert
gute gründe. präbende bedeutet pfründe. scheuchendes ende.


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Jürg Laederach

An Rogers Stelle

Ich war jung, hiess Roger, war ersetzbar und wurde es nicht, früher adlig, schon lange nicht mehr. Ich lebte wie berauscht in meinem hedonistischen Vergnügen, das, wenn unterbrochen, rasch wieder hergestellt wurde. Ich beherrschte die Kunst, liebenswürdig und unangenehm sein zu können. Mit der ersten Eigenschaft zog ich an, mit der zweiten stiess ich ab, dosieren konnte ich. Ich wusste, dass es Frauen gab, dies aber wusste ich nur unbestimmt. Von vielen hatte ich Teile, von keiner aber das Ganze gesehen. Nur Berührung verschaffte mir Gewissheit. Bei deren Vorbereitung legte ich jede unangenehme Erscheinung ab. Wie sah ich aus, als ich und mein Gang sich zur Eile verpflichtet fühlten? Sie war bereits vorgefahren, aber Frauen fuhren, so war meine Erfahrung, immer vor. Ihre Wagentür klemmte, was mich notwendig machte. Ich trat sogleich in Erscheinung, steckte das mitgebrachte Brecheisen in eine Spalte und behob die Klemmung, schuf Reisemöglichkeit. Sie weigerte sich übrigens, sich mir zu nähern, blieb hinten in der Motorkutsche sitzen. Es handelte sich um einen lederbänkisch speziell geschrägten Ford, 36'800 Euro, Diesel, bekannt als Frauenverführer, falls sie lachten. Ich hatte mich nur der Tür genähert. Die zur Schau getragene Abneigung erlebte ich nicht oft, sie erregte mein Interesse. Auf einer Skala von null bis hundert hätte ich sie mit achtundfünfzig bezeichnet. Sie blieb nicht lange eingezwängt, stieg aus und zeigte es mir.
Fanna von Pirmasens hatte einen Satz Kreditkarten in einem netzartig gewobenen Innenteil ihrer Geldtasche, dieses Netz liess sie mich betasten. Es war ein Netz, wie ich ihr versicherte, sie glaubte mir auch da nicht. Net, sagte ich, sie verstand nett. Fanna hatte ihren ersten Mann nicht umgebracht, aber es musste etwas dergleichen geschehen sein, denn ihre Verweigerung eines Geständnisses legte einzig diesen Schluss nahe. Du hast doch wen. Weiss nicht, sagte sie. Du hast seit Jahrzehnten wen. Beweis es mir, sagte sie. Sie führte mehrere Nebulisatoren zum Zerstäuben mit sich, verlor sich in Abgründen von Niedergeschlagenheit, aus welchen sie aber, wie ich, rasch emportauchte, um, wie ich, gleich wieder hineinzustürzen. Das Manisch-Depressive war unsere Kirchmette, deswegen brauchten wir ausser den einfachsten Zerstreuungen keine andere Unterhaltung. Es war eine Freundschaft nach meinem Mass. Ich nannte sie Witwe, auch wohl, um ihren Verflossenen gegenwärtig sein zu lassen. Jemandem, der im Grab liegt, tut man damit Gutes, es läuft auf das »Ihr Mann ist tot und lässt Sie grüssen« hinaus. Er lag allerdings nicht im Grab, wenn man damit sagen will, dass es ihn gar nicht gab. Es hätte gelten können: »Das Grab von Fannas Heiratsperson war, kaum ausgehoben, alsbald aufgehoben.«
Die Kreditkarten, führte man sie in den Automaten mit dem mechanisch keuchend angestrebten Höhepunkt seiner Geldausgabe ein, wirkten zuverlässig. Sie setzten Automaten in erregte Bewegung, sonst wären diese Maschinen stillgestanden. Ich führte einen Rückschluss auf ihre Konten durch, was für unsere gemeinsame Zukunft nicht unbedeutend war. In mehreren Gegenden unserer gemeinsamen Gespräche suchte ich ein Haus, welches ich nicht fand. Fanna hatte es gewiss zu etwas gebracht, aber das Fundament ermangelte der Festigkeit. Fanna, ja, in mir nur noch Fanna, schien mir klug, manchmal klüger als ich, aber meine Prüfungen waren nicht zuverlässig. Sie verfügte über eine annehmbare Erziehung, was sich für mich in den Manieren zu äussern hatte. Sie besass Manieren, ausser beim Essen. Ich brachte ihr den Satz »Reich mir bitte die Manieren« bei und schob ihr daraufhin das Salz über den Tisch. Sie mochte mich fast vom ersten Blick an nicht, und nach unzähligen Anstrengungen meinerseits mässig. Man kann jemanden nicht zum Mögen auffordern und dann an die Aufforderung selber den Wunsch richten, sie möge sich durchsetzen.
Selbstverständlich brach ich keine einzige meiner bisherigen Verbindungen ab, um, wie sie es wollte, ganz nur für sie zu leben. Wie hätte ich im Leben einrichten sollen, was ich nicht einmal beim Lesen je verstanden hatte? Ich machte ihr den Hof mit erklecklichem Nachdruck, brachte ihr alle sinnlichen Opfer, Verzichte, um sie von der Heftigkeit meiner Neigung zu überführen, ich befriedigte mich vor ihr, während sie die Landschaft vor dem Fenster schilderte, und trug ihr endlich sogar meine Hand an. Aber diese wählerische Fürstin aus Pirmasens, wie ich sie nannte, die noch nicht vergessen hatte, wie unglücklich und unbestimmt ihre erste Ehe gewesen war, ihr Mann war furchtbar gewesen und gleichzeitig gab es ihn nicht – diese lebens- und leibesfrohe Herzogin von Windsor wollte lieber jede Unbequemlichkeit im Leben, wie zum Beispiel etwas kalte Zugluft im abgedeckten Kreuz, als einen zweiten Mann, dessen Handlungen sie offenbar an meinen zu messen pathologisch gezwungen war.
Die vornehme Frau lebte sehr isoliert, nach innen gerichtet, wenn sie es nicht nach aussen war. Ihr Eremitismus war keine Hütte im Wald mit einem in Kriechstellung zu benützenden Eingang nach vorn hinaus, sondern eine Drehleuchte, die das ganze Feld bestrich, ihre vollen, am Mundwinkel leicht nach oben schwingenden Lippen konnten ebenso gut waldwärts wie auswärts Besorgungen machen. Sie nahm sämtliches wahr, drängte dann aber die missfallenden Einzelheiten in die Tiefe ihres Bewusstseins, eines Bewusstseins, das ich als grenzenlos enthemmt und vollgepackt ansah. Das Bewusstsein der mir bekannten Menschheit ist eine Rumpelkammer, aus der immerzu Antiquitäten als Neuigkeiten feilgeboten werden. Ich, eine von jeher ungreifbare Person, ersetzbar, aber seit Jahrzehnten auf die Gnade des Ersetztwerdens wartend, war gleichzeitig ein alter Bekannter ihres verstorbenen Mannes gewesen; sie hatte mir damals den Zutritt gestattet und auch nachher verschloss sie mir während des Reisens ihre Motorkutsche nicht, Ford, Diesel, sofort vom Fliessband genommen und verschrottet. Zur gemeinsamen Lust allerdings musste die Kutsche fahren, im Stillstand lief nichts.
Die weibliche Sprache der Galanterie konnte einem Mann von Welt, ich wiederhole, einem Mann des Bezirks Welt, nicht missfallen. Die Beharrlichkeit meiner Bewerbung, von meinen persönlichen Eigenschaften begleitet, meine Figur, meine Jugend, der Anschein der innigsten wahrhaftigsten Liebe und dann wiederum die einsame Lebensart dieser Dame, ein Temperament, zur zärtlichen Empfindung geschaffen, mit einem Wort alles, womit ein weibliches Herz nur verführen konnte, tat auch hier seine Wirkung. Fanna ergab sich endlich nach einer monatelangen fruchtlosen Gegenwehr und nach dem erbittertsten Kampf mit ihrem Bewusstsein. Ich habe bereits genannt, was zum Bewusstsein, der überschätztesten Domäne, dem teuer bezahlten inneren Weingut zu sagen ist. Sie wusste nicht, was sie dazu hätte wissen wollen und erfuhr durchgehend nie, was ihr hätte zugetragen werden sollen.
Wir schritten nun zur Verbindung. Stumm herrschte Übereinstimmung. Geistlichkeit benötigten wir keine. Unter den rasch abgelesenen Formalitäten eines sinnlichen Schwurs, »Beim Wollen immer Tat!« (eine Art Münzaufschrift), war ich der Glückliche – ich wäre es auch geblieben, hätte mein Herz den zärtlichen Gesinnungen, die es damals so feierlich angelobte und die ihm so zärtlich erwidert wurden, treu bleiben können.
Wer die Sekunde nicht ehrt, ist des Zeitraums nicht wert. Einige Jahre waren dahingeflossen, da hin, dort hin, als mir auffiel, dass die Lebensart der Dame etwas einförmig war. Ich schlug ihr vor, in Gesellschaft zu gehen, sie tat's – Besuche anzunehmen, sie willigte ein – Leute zum Essen einzuladen, auch darin gab sie mir nach. Diese Leute und Momente waren alle stark, ausser dass ich kein rechtes Interesse aufbrachte. Endlich fing ein Tag, fingen mehrere Tage an zu verstreichen, und ich liess mich nicht sehen.
Vorher war ihr etwas Unerwartetes geschehen. »Reichen Sie mir die kleinste Kartoffel«, sagte an einem dieser Einladungs-Tische Fanna zu einem unbekannten, ihr gegenüber sitzenden Herrn mässigen Aussehens, ja sie schien sich an eine schreckliche, blatternartige Erhöhung mitten in seinem Gesicht zu richten. »Wir kennen uns«, erwiderte der Mann oder seine Erhöhung; dieses »wir kennen uns« war ein altes schillerndes Konversations-Schlachtpferd, erfolgsverwöhnt. »Wir waren mal paar Jahrzehntchen zusammen«, sagte derselbe. Einige Tischplätze weiter erstickte ich, erbrach etwas Fleisch, das ich mir zum Brusttuch stopfte, damit niemand es sah, machte aber davon kein Aufhebens. »Wir sollten«, so schloss er, als habe er nur darauf gewartet, »noch ein paar ruhige Jahrzehntchen dazu tun, was meinen Sie, Sie brauchen nichts zu meinen, ich schaff das schon, reichen Sie mir Ihre Manieren, la ci darem«. Da hatte sie, mit mir als unwissentlichem Vorreiter und Vorbereiter, einen nachdrücklich positiven Schlag ins Kontor erhalten. Als er sich nach dem Hauptgang plötzlich verabschiedete, begleitete sie ihn nach draussen und hielt ihm die Wagentür.
Ich fehlte beim Nachtisch –, beim Abendessen, beim Umtrunk danach, beim Umtrunk später und beim Gläschen vor Mitternacht. Dies war um so seltsamer, widersinniger, als die Geschäfte, die mich drängten, im Weinhandel lagen. Keine Flasche liegt je allein im Stroh. Wenn ich kam, murmelte ich eins, zwei Worte, streckte mich auf dem Sofa aus, befriedigte mich, ergriff etwa diese oder jene Broschüre, warf sie weg, schäkerte mit meinem Hund, befriedigte ihn oder schlief zuletzt gar ein. Es wurde Abend, sofern es nicht schon Abend war – meine schwächliche und verschleuderte Gesundheit riet mir, früh nach Hause zu gehen. Das hatte mir auch Rogge ausdrücklich befohlen (»Du bist schwach und bist meine Besorgnis, Roger«), und Rogge, wahrhaftig und wahr, beim Muskel der männlichen Fessel, Rogge war ein unvergleichlicher Mann, den ich auf einer ergebnislosen Geschäftsreise im Weinhandel getroffen hatte und der (zusammen mit einem süffigen Yqem) zum Ergebnis dieser Geschäftsreise wurde –, und bei meinem empörten Weggang nahm ich Stock und Hut, dann einen zweiten Stock und noch einen Hut, dann einen dritten Hut und abermals einen Stock, und so weiter, so lange es auf meinem Kopf und an meinen Armen Platz gab, und ging, vergass in meiner Zerstreuung auch, Madame von Pirmasens beim Abschied zu befriedigen.
Es kam, wie es kommen musste. Fanna, jetzt mit dem inzwischen weniger auffälligen Blatternarbigen glücklich verheiratet, vermutete, dass sie nicht mehr geliebt wurde. Sie war nie geliebt worden, jetzt aber musste sie sich überzeugen, und das unternahm sie, indem sie es bleiben liess und mit der erlösenden Kehrtwendung jeder verheirateten Frau von ungefähr – auf der Skala von null bis hundert – von ungefähr dreissig Jahren wieder auf mich und meine klare, mit der Zeit vollkommen überzeugende Sprache und Sache baute. Es war die endgültige Rückkehr. Ich war sein Ersatz, er war mein Ersatz, sie war zwar unersetzlich, aber ersetzte alles. Ich wüsste seit mehreren Phasen der Historie kein überzeugender gegründetes Gebäude zu nennen als unsere unter langwierigen und ganz schmerzlosen Wehen errichtete Konstruktion.


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