|   Ich war jung, hiess 
                    Roger, war ersetzbar und wurde es nicht, früher adlig, 
                    schon lange nicht mehr. Ich lebte wie berauscht in meinem 
                    hedonistischen Vergnügen, das, wenn unterbrochen, rasch 
                    wieder hergestellt wurde. Ich beherrschte die Kunst, liebenswürdig 
                    und unangenehm sein zu können. Mit der ersten Eigenschaft 
                    zog ich an, mit der zweiten stiess ich ab, dosieren konnte 
                    ich. Ich wusste, dass es Frauen gab, dies aber wusste ich 
                    nur unbestimmt. Von vielen hatte ich Teile, von keiner aber 
                    das Ganze gesehen. Nur Berührung verschaffte mir Gewissheit. 
                    Bei deren Vorbereitung legte ich jede unangenehme Erscheinung 
                    ab. Wie sah ich aus, als ich und mein Gang sich zur Eile verpflichtet 
                    fühlten? Sie war bereits vorgefahren, aber Frauen fuhren, 
                    so war meine Erfahrung, immer vor. Ihre Wagentür klemmte, 
                    was mich notwendig machte. Ich trat sogleich in Erscheinung, 
                    steckte das mitgebrachte Brecheisen in eine Spalte und behob 
                    die Klemmung, schuf Reisemöglichkeit. Sie weigerte sich 
                    übrigens, sich mir zu nähern, blieb hinten in der 
                    Motorkutsche sitzen. Es handelte sich um einen lederbänkisch 
                    speziell geschrägten Ford, 36'800 Euro, Diesel, bekannt 
                    als Frauenverführer, falls sie lachten. Ich hatte mich 
                    nur der Tür genähert. Die zur Schau getragene Abneigung 
                    erlebte ich nicht oft, sie erregte mein Interesse. Auf einer 
                    Skala von null bis hundert hätte ich sie mit achtundfünfzig 
                    bezeichnet. Sie blieb nicht lange eingezwängt, stieg 
                    aus und zeigte es mir.  
                    Fanna von Pirmasens hatte einen Satz Kreditkarten in einem 
                    netzartig gewobenen Innenteil ihrer Geldtasche, dieses Netz 
                    liess sie mich betasten. Es war ein Netz, wie ich ihr versicherte, 
                    sie glaubte mir auch da nicht. Net, sagte ich, sie verstand 
                    nett. Fanna hatte ihren ersten Mann nicht umgebracht, aber 
                    es musste etwas dergleichen geschehen sein, denn ihre Verweigerung 
                    eines Geständnisses legte einzig diesen Schluss nahe. 
                    Du hast doch wen. Weiss nicht, sagte sie. Du hast seit Jahrzehnten 
                    wen. Beweis es mir, sagte sie. Sie führte mehrere Nebulisatoren 
                    zum Zerstäuben mit sich, verlor sich in Abgründen 
                    von Niedergeschlagenheit, aus welchen sie aber, wie ich, rasch 
                    emportauchte, um, wie ich, gleich wieder hineinzustürzen. 
                    Das Manisch-Depressive war unsere Kirchmette, deswegen brauchten 
                    wir ausser den einfachsten Zerstreuungen keine andere Unterhaltung. 
                    Es war eine Freundschaft nach meinem Mass. Ich nannte sie 
                    Witwe, auch wohl, um ihren Verflossenen gegenwärtig sein 
                    zu lassen. Jemandem, der im Grab liegt, tut man damit Gutes, 
                    es läuft auf das »Ihr Mann ist tot und lässt 
                    Sie grüssen« hinaus. Er lag allerdings nicht im 
                    Grab, wenn man damit sagen will, dass es ihn gar nicht gab. 
                    Es hätte gelten können: »Das Grab von Fannas 
                    Heiratsperson war, kaum ausgehoben, alsbald aufgehoben.« 
                     
                    Die Kreditkarten, führte man sie in den Automaten mit 
                    dem mechanisch keuchend angestrebten Höhepunkt seiner 
                    Geldausgabe ein, wirkten zuverlässig. Sie setzten Automaten 
                    in erregte Bewegung, sonst wären diese Maschinen stillgestanden. 
                    Ich führte einen Rückschluss auf ihre Konten durch, 
                    was für unsere gemeinsame Zukunft nicht unbedeutend war. 
                    In mehreren Gegenden unserer gemeinsamen Gespräche suchte 
                    ich ein Haus, welches ich nicht fand. Fanna hatte es gewiss 
                    zu etwas gebracht, aber das Fundament ermangelte der Festigkeit. 
                    Fanna, ja, in mir nur noch Fanna, schien mir klug, manchmal 
                    klüger als ich, aber meine Prüfungen waren nicht 
                    zuverlässig. Sie verfügte über eine annehmbare 
                    Erziehung, was sich für mich in den Manieren zu äussern 
                    hatte. Sie besass Manieren, ausser beim Essen. Ich brachte 
                    ihr den Satz »Reich mir bitte die Manieren« bei 
                    und schob ihr daraufhin das Salz über den Tisch. Sie 
                    mochte mich fast vom ersten Blick an nicht, und nach unzähligen 
                    Anstrengungen meinerseits mässig. Man kann jemanden nicht 
                    zum Mögen auffordern und dann an die Aufforderung selber 
                    den Wunsch richten, sie möge sich durchsetzen. 
                    Selbstverständlich brach ich keine einzige meiner bisherigen 
                    Verbindungen ab, um, wie sie es wollte, ganz nur für 
                    sie zu leben. Wie hätte ich im Leben einrichten sollen, 
                    was ich nicht einmal beim Lesen je verstanden hatte? Ich machte 
                    ihr den Hof mit erklecklichem Nachdruck, brachte ihr alle 
                    sinnlichen Opfer, Verzichte, um sie von der Heftigkeit meiner 
                    Neigung zu überführen, ich befriedigte mich vor 
                    ihr, während sie die Landschaft vor dem Fenster schilderte, 
                    und trug ihr endlich sogar meine Hand an. Aber diese wählerische 
                    Fürstin aus Pirmasens, wie ich sie nannte, die noch nicht 
                    vergessen hatte, wie unglücklich und unbestimmt ihre 
                    erste Ehe gewesen war, ihr Mann war furchtbar gewesen und 
                    gleichzeitig gab es ihn nicht – diese lebens- und leibesfrohe 
                    Herzogin von Windsor wollte lieber jede Unbequemlichkeit im 
                    Leben, wie zum Beispiel etwas kalte Zugluft im abgedeckten 
                    Kreuz, als einen zweiten Mann, dessen Handlungen sie offenbar 
                    an meinen zu messen pathologisch gezwungen war.  
                    Die vornehme Frau lebte sehr isoliert, nach innen gerichtet, 
                    wenn sie es nicht nach aussen war. Ihr Eremitismus war keine 
                    Hütte im Wald mit einem in Kriechstellung zu benützenden 
                    Eingang nach vorn hinaus, sondern eine Drehleuchte, die das 
                    ganze Feld bestrich, ihre vollen, am Mundwinkel leicht nach 
                    oben schwingenden Lippen konnten ebenso gut waldwärts 
                    wie auswärts Besorgungen machen. Sie nahm sämtliches 
                    wahr, drängte dann aber die missfallenden Einzelheiten 
                    in die Tiefe ihres Bewusstseins, eines Bewusstseins, das ich 
                    als grenzenlos enthemmt und vollgepackt ansah. Das Bewusstsein 
                    der mir bekannten Menschheit ist eine Rumpelkammer, aus der 
                    immerzu Antiquitäten als Neuigkeiten feilgeboten werden. 
                    Ich, eine von jeher ungreifbare Person, ersetzbar, aber seit 
                    Jahrzehnten auf die Gnade des Ersetztwerdens wartend, war 
                    gleichzeitig ein alter Bekannter ihres verstorbenen Mannes 
                    gewesen; sie hatte mir damals den Zutritt gestattet und auch 
                    nachher verschloss sie mir während des Reisens ihre Motorkutsche 
                    nicht, Ford, Diesel, sofort vom Fliessband genommen und verschrottet. 
                    Zur gemeinsamen Lust allerdings musste die Kutsche fahren, 
                    im Stillstand lief nichts. 
                    Die weibliche Sprache der Galanterie konnte einem Mann von 
                    Welt, ich wiederhole, einem Mann des Bezirks Welt, nicht missfallen. 
                    Die Beharrlichkeit meiner Bewerbung, von meinen persönlichen 
                    Eigenschaften begleitet, meine Figur, meine Jugend, der Anschein 
                    der innigsten wahrhaftigsten Liebe und dann wiederum die einsame 
                    Lebensart dieser Dame, ein Temperament, zur zärtlichen 
                    Empfindung geschaffen, mit einem Wort alles, womit ein weibliches 
                    Herz nur verführen konnte, tat auch hier seine Wirkung. 
                    Fanna ergab sich endlich nach einer monatelangen fruchtlosen 
                    Gegenwehr und nach dem erbittertsten Kampf mit ihrem Bewusstsein. 
                    Ich habe bereits genannt, was zum Bewusstsein, der überschätztesten 
                    Domäne, dem teuer bezahlten inneren Weingut zu sagen 
                    ist. Sie wusste nicht, was sie dazu hätte wissen wollen 
                    und erfuhr durchgehend nie, was ihr hätte zugetragen 
                    werden sollen.  
                    Wir schritten nun zur Verbindung. Stumm herrschte Übereinstimmung. 
                    Geistlichkeit benötigten wir keine. Unter den rasch abgelesenen 
                    Formalitäten eines sinnlichen Schwurs, »Beim Wollen 
                    immer Tat!« (eine Art Münzaufschrift), war ich 
                    der Glückliche – ich wäre es auch geblieben, 
                    hätte mein Herz den zärtlichen Gesinnungen, die 
                    es damals so feierlich angelobte und die ihm so zärtlich 
                    erwidert wurden, treu bleiben können.  
                    Wer die Sekunde nicht ehrt, ist des Zeitraums nicht wert. 
                    Einige Jahre waren dahingeflossen, da hin, dort hin, als mir 
                    auffiel, dass die Lebensart der Dame etwas einförmig 
                    war. Ich schlug ihr vor, in Gesellschaft zu gehen, sie tat's 
                    – Besuche anzunehmen, sie willigte ein – Leute 
                    zum Essen einzuladen, auch darin gab sie mir nach. Diese Leute 
                    und Momente waren alle stark, ausser dass ich kein rechtes 
                    Interesse aufbrachte. Endlich fing ein Tag, fingen mehrere 
                    Tage an zu verstreichen, und ich liess mich nicht sehen.  
                    Vorher war ihr etwas Unerwartetes geschehen. »Reichen 
                    Sie mir die kleinste Kartoffel«, sagte an einem dieser 
                    Einladungs-Tische Fanna zu einem unbekannten, ihr gegenüber 
                    sitzenden Herrn mässigen Aussehens, ja sie schien sich 
                    an eine schreckliche, blatternartige Erhöhung mitten 
                    in seinem Gesicht zu richten. »Wir kennen uns«, 
                    erwiderte der Mann oder seine Erhöhung; dieses »wir 
                    kennen uns« war ein altes schillerndes Konversations-Schlachtpferd, 
                    erfolgsverwöhnt. »Wir waren mal paar Jahrzehntchen 
                    zusammen«, sagte derselbe. Einige Tischplätze weiter 
                    erstickte ich, erbrach etwas Fleisch, das ich mir zum Brusttuch 
                    stopfte, damit niemand es sah, machte aber davon kein Aufhebens. 
                    »Wir sollten«, so schloss er, als habe er nur 
                    darauf gewartet, »noch ein paar ruhige Jahrzehntchen 
                    dazu tun, was meinen Sie, Sie brauchen nichts zu meinen, ich 
                    schaff das schon, reichen Sie mir Ihre Manieren, la ci darem«. 
                    Da hatte sie, mit mir als unwissentlichem Vorreiter und Vorbereiter, 
                    einen nachdrücklich positiven Schlag ins Kontor erhalten. 
                    Als er sich nach dem Hauptgang plötzlich verabschiedete, 
                    begleitete sie ihn nach draussen und hielt ihm die Wagentür. 
                    Ich fehlte beim Nachtisch –, beim Abendessen, beim Umtrunk 
                    danach, beim Umtrunk später und beim Gläschen vor 
                    Mitternacht. Dies war um so seltsamer, widersinniger, als 
                    die Geschäfte, die mich drängten, im Weinhandel 
                    lagen. Keine Flasche liegt je allein im Stroh. Wenn ich kam, 
                    murmelte ich eins, zwei Worte, streckte mich auf dem Sofa 
                    aus, befriedigte mich, ergriff etwa diese oder jene Broschüre, 
                    warf sie weg, schäkerte mit meinem Hund, befriedigte 
                    ihn oder schlief zuletzt gar ein. Es wurde Abend, sofern es 
                    nicht schon Abend war – meine schwächliche und 
                    verschleuderte Gesundheit riet mir, früh nach Hause zu 
                    gehen. Das hatte mir auch Rogge ausdrücklich befohlen 
                    (»Du bist schwach und bist meine Besorgnis, Roger«), 
                    und Rogge, wahrhaftig und wahr, beim Muskel der männlichen 
                    Fessel, Rogge war ein unvergleichlicher Mann, den ich auf 
                    einer ergebnislosen Geschäftsreise im Weinhandel getroffen 
                    hatte und der (zusammen mit einem süffigen Yqem) zum 
                    Ergebnis dieser Geschäftsreise wurde –, und bei 
                    meinem empörten Weggang nahm ich Stock und Hut, dann 
                    einen zweiten Stock und noch einen Hut, dann einen dritten 
                    Hut und abermals einen Stock, und so weiter, so lange es auf 
                    meinem Kopf und an meinen Armen Platz gab, und ging, vergass 
                    in meiner Zerstreuung auch, Madame von Pirmasens beim Abschied 
                    zu befriedigen.  
                    Es kam, wie es kommen musste. Fanna, jetzt mit dem inzwischen 
                    weniger auffälligen Blatternarbigen glücklich verheiratet, 
                    vermutete, dass sie nicht mehr geliebt wurde. Sie war nie 
                    geliebt worden, jetzt aber musste sie sich überzeugen, 
                    und das unternahm sie, indem sie es bleiben liess und mit 
                    der erlösenden Kehrtwendung jeder verheirateten Frau 
                    von ungefähr – auf der Skala von null bis hundert 
                    – von ungefähr dreissig Jahren wieder auf mich 
                    und meine klare, mit der Zeit vollkommen überzeugende 
                    Sprache und Sache baute. Es war die endgültige Rückkehr. 
                    Ich war sein Ersatz, er war mein Ersatz, sie war zwar unersetzlich, 
                    aber ersetzte alles. Ich wüsste seit mehreren Phasen 
                    der Historie kein überzeugender gegründetes Gebäude 
                    zu nennen als unsere unter langwierigen und ganz schmerzlosen 
                    Wehen errichtete Konstruktion. 
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