Nummer 122 Zurück zum Archiv

Uit Nederland

Erscheinungsdatum: August 2005

Auszüge:
Inhaltsverzeichnis
Über dieses Heft
Charlotte Mutzaers, Und der Haifisch …
Armando, Streit
Rouke van der Hoek, Vogelführer
J. Bernlef, Der Zoo
 
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Inhaltsverzeichnis

(Unterstrichene Texte können angewählt werden)

Liebe Leserin, Lieber Leser
Uit Niderland

Interview mit Marlene Müller-Haas
Adriaan van Dis
Maria Barnas
Marga Minco
Thomas Verbogt
Jan Baeke
Charlotte Mutsaers
Gerrit Krol
H.C. ten Berge
Nicolaas Matsier
Daphne Meijer
Toon Tellegen
Willem van Toorn
Jaap Blonk
Armando
Rouke van der Hoek
Tommy Wieringa
Menno Wigman
Manon Uphoff
K. Schippers
J. Bernlef
Jan Wolkers

Besprechungen und Hinweise
 
 
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Über dieses Heft

Liebe Leserin, lieber Leser,

Das Land ist nicht allzu weit weg, seine Sprache steht dem Deutsch nahe, trotzdem wissen wir nicht viel über seine Literatur. Einige grosse Namen, mehr nicht. Dass die Niederlande mit
einem literarischen Angebot von grösster Buntheit und Vitalität aufwarten, können Sie in der vorliegenden Nummer nachlesen. Einundzwanzig zeitgenössische AutorInnen aus den Niederlanden kommen da zu Wort, unter anderem Armando, Gerrit Krol, Charlotte Mutsaers, Jaap Blonk. Die Nummer, umfangreicher als sonst, ist ganz der Literatur aus den Niederlanden gewidmet. Prosastücke, Gedichte und dialogische Texte geben Einblick
in die höchst eigenwilligen und originellen Spielformen, die einen unverkennbaren Akzent in die europäische Literaturlandschaft setzen.
Wir danken allen, die uns bei der Arbeit an dieser Nummer behilflich waren – allen voran Marlene Müller-Haas, die als gewiefte Kennerin und Übersetzerin die Auswahl der Texte
besorgt und auch die meisten Texte aus dem Niederländischen übertragen hat. Einen grossen Dank schulden wir auch dem »Nederlands Literair Produktie- en Vertalingenfonds«, der freundlicherweise die Kosten der Übersetzung übernommen hat. Die Kaltnadelradierungen stammen von der Künstlerin Mireille Gros; auch ihr besten Dank.Wie gewohnt finden Sie am
Schluss der Nummer aktuelle Buchbesprechungen.
Nun wünschen wir Ihnen beim Lesen viel Vergnügen.

Rudolf Bussmann und Martin Zingg

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Charlotte Mutsaers

Und der Haifisch ...

Die lex parsimoniae, das Gesetz der Sparsamkeit im Haushalt der Natur, lautet: Man kriegt nur soviel, wie man zum Leben braucht (von wem wir das kriegen, wird weise offen gelassen).
Deshalb haben Spürnasen keine guten Augen und hat ein Tier mit Hörnern niemals scharfe Zähne im Maul. Wer einer Kuh ins Maul fasst, ist verblüfft über die Stumpfheit ihrer Zähne. Wer dasselbe bei dem glatten, hörnerlosen Hai tut, sieht seine Hand nie wieder. Machen diese Elfenbeinmesser nun den Hai weniger lieb?
Als ich Victor begegne, ist der Weihnachtsball der Seekadetten voll in Gang. Um auf solche Begegnungen gut vorbereitet zu sein, habe ich seit meinem zehnten Lebensjahr so gut wie täglich das Wort »Liebhaber« im grossen Van Dale-Wörterbuch nachgeschlagen:
»einer, der eine Frau liebhat und dies auch zeigt«.
Ich bin sechzehn Jahre alt und weiss nicht, ob man dann schon eine Frau ist. Ich weiss genauso wenig, wie ein Liebhaber in spe etwas zeigt, und ob man selbst eigentlich auch etwas zeigen muss, wenn man bemerkt, was er zeigt.
Der Ballsaal ist als Meer aufgetakelt. Der Boden ist mit Sand bestreut, was einem das Tanzen ziemlich erschwert, und an den Wänden kleben wilde Wellen aus blauer Pappe, aus deren Schaumkronen abwechselnd ein schwer behängter Tannenzweig und ein lachender Fischkopf sticht. Ein lebensgrosses Fischernetz voll bunter Christbaumkugeln entzieht die Decke dem
Blick. Und die Bardamen sind als Seejungfrauen ausstaffiert.
Ich werde von einem Stehbuffet angelockt, das zum übergrossen Teil aus Kerzen und geöffneten Hummerscheren zu bestehen scheint. Das Problem mit einem Stehbuffet liegt darin, dass es zwar Tischherren gibt, aber keine Tische. Gerade stehe ich in einer Ecke des Saals und überlege, wie ich mit meinem vollgeladenen Teller in der einen und dem Champagnerglas in der anderen Hand all diese Köstlichkeiten verspeisen kann, da kommt Victor an. Victor ist ein Seekadett erster Klasse. Was das genau ist, mag der liebe Gott wissen, aber es ist auf jeden Fall höher als mein hochbeladener Teller.
Grinsend stellt er einfach seinen Teller und sein Glas auf den Sandboden und fragt: »Schönste, darf ich dein Tischchen sein?« Noch nie zuvor hat mich jemand mit Schönste angesprochen. Begierig stelle ich meinen Teller auf die beiden ausgestreckten Handflächen. Er geht leicht in die Knie und sagt: »Greif zu.« Selten wurde ein Befehl liebevoller ausgesprochen, selten wurde er pflichtgetreuer befolgt. Bei jedem Bissen vom kippelnden Teller beobachtet er mich voll Bewunderung und Misstrauen. Die Bewunderung lasse ich mir gefallen, das Misstrauen verstehe ich nicht.
Dann fliegen mit einem Schlag die muschelförmigen Türen auf: der Gemeindefotograf! Wo er nur kann, schiesst er Fotos von Szenen, die ihn nichts angehen. Damit verdirbt er ganz allein
uns allen die Stimmung. Vor Wut springen mir Messer und Gabel auf den Boden. Ich habe keine Lust, sie aufzuheben. Bevor man es weiss, erwischt es einen in einer komischen Pose.
»Victor«, sage ich, »ich habe keine Lust mehr«, denn mit blossen Händen mit Krebsscheren zu hantieren, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ich hoffe, dass es nicht persönlich genommen
wird. Vorsichtig hebe ich den Teller von seinen flachen Händen, die gleich schlaff herabsinken.
»Wie jammerschade«, sagt Victor, »während du gegessen hast, konnte ich so schön in deinen Mund sehen, und ich wollte dich gerade fragen, ob ich vielleicht mal an diesen scharfen,
weissen Zähnen fühlen dürfte.«
Ich: »Wie weisst du, dass sie scharf sind, du Idiot?«
Er: »Weil deine Zunge es auch ist, du Dummkopf.«
Ich fühle an meiner Zunge. Und was ist? Er hat gelogen.


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Armando

Streit

»Jetzt«, sagte der Mann.
Die Frau holte aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Der Mann wandte sich an die Neugierigen und sagte: »Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Meine Frau und ich haben
Streit. Fragen Sie nicht warum, denn das wissen wir selbst nicht. Wir haben noch nie Streit gehabt und wir dachten, es müsste einmal sein. Schliesslich haben alle Streit, wir sind die einzigen, die nie Streit haben. Deshalb habe ich meine Frau aufgefordert, mir eine runterzuhauen, dass es nur so knallt, ich hoffe, Sie sind zufrieden mit uns. Noch Fragen?«
»Ja«, sagte ein alter Mann und trat streitlustig vor, »ich habe eine Frage an die Dame, haben Sie Ihren Mann schon öfter geschlagen?« »Nein, natürlich nicht«, sagte die Frau, »wir haben doch nie Streit.«
»Ich finde, das ist gar kein richtiger Streit«, sagte der alte
Mann.
»Und dabei habe ich meinen Mann eben erst geschlagen.«
»Das reicht nicht«, war die Antwort, »Ihr Mann hat nicht
einmal zurückgeschlagen.«
»Ach so«, sagte das Ehepaar.
Schweigen.
»Wir wissen nicht, wie es jetzt weitergeht«, sagte das Ehepaar. Da fingen die Zuschauer an, sich einzumischen. »Ihr müsst euch prügeln, umstossen, euch treten, an den Haaren reissen. Gibt’s noch was zu sehen? Beeilt euch ein bisschen, wir sind auf dem Heimweg, man wartet auf uns.«
Das Ehepaar tat, was von ihm erwartet wurde. Sie schlugen und traten sich grün und blau, und als sie wieder zu sich kamen, konnten sie kaum noch sprechen. Die Zuschauer waren bereits nach Hause gegangen.
»Ob sie wohl zufrieden mit uns waren?«, mümmelte der Mann.
»Ich hoffe es«, sagte die Frau, »aber man weiss ja nie.«


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Rouke van der Hoek

Vogelführer

Dieses Buch erzählt davon, was Menschen in ihnen sahen:
Hänfling, Steinschmätzer, Braunkehlchen, Goldammer.
Vorfahren auf dem Feld, zeigend, rufend,
bis das richtige Wort vorbeifliegt, sie nicken,

Namen sind geteiltes Gefühl.

Pfingstfest nach Pfingstfest: Grauwürger,
Wiedehopf, Merlin, Roter Milan, Pfeifente, Lappentaucher,
Eisvogel, Bauch voran, wie eine Flamme betend
über frohen, faltigen Köpfen.

Deshalb Vögel bunter abgebildet als das graue
Gescharre draussen, leichte Beute so
für die Freunde der Seite 96, und weiter:
Habicht, Sperber, Falke, falscher geschminkt

als Judas im Passionsspiel.

Der Vogelführer hat mich weit gebracht. Polder.
Dünen. Limburg. Begegnungen. Liebe.
Manchmal sehe ich noch etwas fliegen, das
einer Seite aus dem Vogelführer gleicht.


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J. Bernlef

Der Zoo

Es hatte ihn überrascht, wie rigoros die Menschen in der belagerten Stadt an ihren täglichen Gewohnheiten festhielten. Die Belagerung dauerte jetzt bereits ein gutes Jahr, doch noch immer
goss seine Frau nachmittags um drei den Tee ein und erwartete ihn um sieben Uhr zum Abendessen, obwohl es jeden Tag unklar war, ob es denn etwas zu essen geben oder ob er wieder heiler Haut nach Hause kommen würde.
Menschen sahen auf ihre Uhren, schrieben Termine in ihre Kalender, als könne man sich noch frei auf den Strassen bewegen und lauere nicht auf den Hügeln die ständige Gefahr von Heckenschützen, die, bewaffnet mit Gewehren mit Zielfernrohren, auf alles schossen, was sich in den Strassen der Stadt unter ihnen bewegte.
Aber war er denn viel anders?

Schon mehr als zwanzig Jahre arbeitete er als Wärter in dem kleinen Zoo der Stadt. Er stand allein da, seit seine beiden Kollegen den Heckenschützen zum Opfer gefallen waren. Den
jüngeren hatten sie bereits in der ersten Woche der Belagerungvor dem Wolfskäfig erschossen, dem anderen Kollegen fehlte seit kurzem ein Bein.
Der Zoo lag am Rande der Stadt. Obwohl das lebende Inventar nicht viel vorstellte – ein gefleckter Bengalischer Tiger, ein alter, sandfarbener Löwe, der nichts als schlief, acht Shetlandponys, ein amerikanisches Bison, das aussah, als schleppe es einen zerfransten Teppich auf dem Rücken mit sich herum, ein Lama, ein paar Antilopen und unzählige Schwäne, Enten
und Pfauen –, war der Zoo zu Friedenszeiten ein beliebtes Ausflugsziel für junge Familien mit Kindern, alte Männer mit Leinenmützen und einige junge Akademiestudenten gewesen, die
versuchten, mit halboffenem Mund, die Bewegungen der Tiere in Gefangenschaft festzuhalten.
Einen Monat nach Beginn der Belagerung waren der Panther, drei der Ponys, sämtliche Antilopen, der sandfarbene Löwe und das amerikanische Bison tot. Anfangs konnten die Kadaver nicht einmal abgeholt werden. Nein, er war mit dem Direktor einer Meinung gewesen, dass es besser sei, den Tiergarten vorübergehend zu schliessen. So einfach, wie es der Direktor an seinem Schreibtisch beschlossen hatte, war es nun auch wieder nicht. Man konnte die übriggebliebenen Tiere nicht ihrem Schicksal überlassen. Freilassen ging nicht. Töten würde eine Kapitulation vor dem Feind auf den Hügeln bedeuten. Also blieb nichts weiter übrig, als die verbliebenen Tiere täglich weiter zu füttern. Auch hier hielt er sich, genau wie seine Frau zu Hause, an die gewohnten Zeiten. Das Federvieh bekam morgens sein Futter und die restlichen grösseren Tiere nachmittags um halb vier.
Der Direktor übernahm den Futtereinkauf, bis er, nunmehr vor einem Monat, plötzlich verschwand, wie derzeit so viele Menschen plötzlich verschwanden. Tot oder geflohen. Jeden Tag nannte seine Frau neue Namen von Freunden und Bekannten, die aus der Stadt geflüchtet waren. In ihrer Aufzählung hörte er einen leicht tadelnden Unterton. Aber dann schüttelte er den Kopf. Er konnte die Tiere nicht allein lassen. Das kam nicht in Frage. Und deshalb hatte es ihn auch nicht wirklich gewundert, als er eines Abends heimkam und die Wohnung leer fand. Auf dem Tisch lag ein Zettel, dass seine Frau mit einer befreundeten Familie die belagerte Stadt verlassen habe. Eigentlich hatte er keine Zeit, lange darüber nachzudenken; die Futtersuche für die Tiere nahm seine ganze Zeit in Beschlag.
Anfangs fand er gelegentlich noch ein offenes Ohr beim Schlachthof und bei den wenigen verbliebenen Metzgern der Stadt, aber inzwischen assen die Leute alles von einem Tier.
Und von den ausgebeinten Skeletten allein konnte der Bengalische Tiger nicht leben. Die paar kleineren Tiere, Pfauen, Kaninchen, Tauben und Möwen, die täglich Beute der jungen
Preisschützen in den Hügeln wurden, reichten längst nicht, um ihn zu füttern.
Der Tiger lief nicht mehr vor den Gittern auf und ab, wobeisich die Flecken auf seinem glänzenden Fell zum Rhythmus seiner Füsse mitbewegten, sondern lag nun mit eingefallenen,
keuchenden Flanken apathisch in einer Ecke des Käfigs. Ein schrecklicher Anblick.
So war es gekommen. So war er dazu gekommen. Die wenigen Menschen, die ihm auf der Strasse begegneten, dachten vermutlich, dass er eine Leiche zum Friedhof brachte. Oder vielleicht wussten sie, wohin er mit der Leiche ging, aber es war ihnen einerlei, solange sie nicht selbst auf seinem Karren lagen. Jedesmal, wenn er mit einer Leiche zum Zoo fuhr, suchte
er einen anderen Weg zum Tigerkäfig, um die Möglichkeit, von den Heckenschützen entdeckt zu werden, so gering wie möglich zu halten.
Das erste Mal hatte er, flau vor Selbstüberwindung, den Körper eines alten Mannes ohne Schuhe in den Käfig geschoben und war sofort nach Hause gegangen, ohne sich um die anderen Tiere zu kümmern.
Es ging jetzt nur noch um den Tiger. Er suchte die auf den Strassen liegenden Leichen sorgfältig aus. Stinkende Körper rührte er nicht an, ebenso wenig die von toten Frauen und Kindern. Mehrmals wurde er beim Transport zum Tiergarten beinahe selbst getroffen. Als ein Rad von seinem Karren geschossen wurde, hatte er den Körper des Toten über eine Schulter gelegt und zu einem Loch im Zaun geschleppt. Während er sich bückte, um mit der freien Hand einen Durchlass zu machen, spürte er den Körper auf seinem Rücken zweimal nacheinander heftig zucken. Er erstarrte kurz, begriff dann, was geschehen war.
An den Füssen zerrte er die Leiche über den kleinen Rasen zum Käfig. Sobald ihn der Tiger erblickte, sprang er in seiner vollen Länge an den Gitterstäben hoch, gross und ehrfurchtgebietend mit seinem triumphierenden Körper, seinen an den Eisenstäben nach unten kratzenden Nägeln.
Der Tiger war prachtvoll. So schön war er noch nie gewesen. Mit geneigtem Haupt und wütend hin- und herpeitschendem Schweif wartete er, bis der Wärter die Luke geöffnet hatte
und den Leichnam hineinschob. Dann stieg ein schauerliches Brüllen auf, das die Heckenschützen in den Hügeln nach ihren Gewehren greifen liess.
Der Mann im Zoo stand in aller Ruhe vor dem Käfig, aus dem das Gebrüll aufstieg. Er bewegte sich nicht. Schien von dem fasziniert zu sein, was er vor sich sah. In Wirklichkeit dachte er an die zwei Kugeln im Fleisch des Toten. Wie sie nun im lebenden Körper des Tigers weiter ihren Weg suchen würden.
Der Tiger im Käfig hatte der Leiche den linken Arm abgerissen. Er hielt den Arm bei der Schulter in seinem Maul. Abgetrennte Nerven und Sehnen hingen wie ein Knäuel Spaghettifäden aus dem blutigen Fleisch.
In all seiner Pracht schritt der Tiger mit dem abgerissenen Arm, in einem braunen Ärmel, auf ihn zu. Impulsiv ergriff er die Hand, die ihm durch die Stäbe hingestreckt wurde, als wolle
er den Toten noch retten. Die Uhr am Handgelenk zeigte Viertel vor vier.
Einer der Männer in den Hügeln sah durch sein Zielfernrohr, wie der Mann dort unten im Zoo den Tiger mit einem Menschenarm fütterte. Er zögerte keinen Moment.


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