Es hatte ihn überrascht,
wie rigoros die Menschen in der belagerten Stadt an ihren
täglichen Gewohnheiten festhielten. Die Belagerung dauerte
jetzt bereits ein gutes Jahr, doch noch immer
goss seine Frau nachmittags um drei den Tee ein und erwartete
ihn um sieben Uhr zum Abendessen, obwohl es jeden Tag unklar
war, ob es denn etwas zu essen geben oder ob er wieder heiler
Haut nach Hause kommen würde.
Menschen sahen auf ihre Uhren, schrieben Termine in ihre Kalender,
als könne man sich noch frei auf den Strassen bewegen
und lauere nicht auf den Hügeln die ständige Gefahr
von Heckenschützen, die, bewaffnet mit Gewehren mit Zielfernrohren,
auf alles schossen, was sich in den Strassen der Stadt unter
ihnen bewegte.
Aber war er denn viel anders?
Schon mehr als zwanzig Jahre arbeitete er als Wärter
in dem kleinen Zoo der Stadt. Er stand allein da, seit seine
beiden Kollegen den Heckenschützen zum Opfer gefallen
waren. Den
jüngeren hatten sie bereits in der ersten Woche der Belagerungvor
dem Wolfskäfig erschossen, dem anderen Kollegen fehlte
seit kurzem ein Bein.
Der Zoo lag am Rande der Stadt. Obwohl das lebende Inventar
nicht viel vorstellte – ein gefleckter Bengalischer
Tiger, ein alter, sandfarbener Löwe, der nichts als schlief,
acht Shetlandponys, ein amerikanisches Bison, das aussah,
als schleppe es einen zerfransten Teppich auf dem Rücken
mit sich herum, ein Lama, ein paar Antilopen und unzählige
Schwäne, Enten
und Pfauen –, war der Zoo zu Friedenszeiten ein beliebtes
Ausflugsziel für junge Familien mit Kindern, alte Männer
mit Leinenmützen und einige junge Akademiestudenten gewesen,
die
versuchten, mit halboffenem Mund, die Bewegungen der Tiere
in Gefangenschaft festzuhalten.
Einen Monat nach Beginn der Belagerung waren der Panther,
drei der Ponys, sämtliche Antilopen, der sandfarbene
Löwe und das amerikanische Bison tot. Anfangs konnten
die Kadaver nicht einmal abgeholt werden. Nein, er war mit
dem Direktor einer Meinung gewesen, dass es besser sei, den
Tiergarten vorübergehend zu schliessen. So einfach, wie
es der Direktor an seinem Schreibtisch beschlossen hatte,
war es nun auch wieder nicht. Man konnte die übriggebliebenen
Tiere nicht ihrem Schicksal überlassen. Freilassen ging
nicht. Töten würde eine Kapitulation vor dem Feind
auf den Hügeln bedeuten. Also blieb nichts weiter übrig,
als die verbliebenen Tiere täglich weiter zu füttern.
Auch hier hielt er sich, genau wie seine Frau zu Hause, an
die gewohnten Zeiten. Das Federvieh bekam morgens sein Futter
und die restlichen grösseren Tiere nachmittags um halb
vier.
Der Direktor übernahm den Futtereinkauf, bis er, nunmehr
vor einem Monat, plötzlich verschwand, wie derzeit so
viele Menschen plötzlich verschwanden. Tot oder geflohen.
Jeden Tag nannte seine Frau neue Namen von Freunden und Bekannten,
die aus der Stadt geflüchtet waren. In ihrer Aufzählung
hörte er einen leicht tadelnden Unterton. Aber dann schüttelte
er den Kopf. Er konnte die Tiere nicht allein lassen. Das
kam nicht in Frage. Und deshalb hatte es ihn auch nicht wirklich
gewundert, als er eines Abends heimkam und die Wohnung leer
fand. Auf dem Tisch lag ein Zettel, dass seine Frau mit einer
befreundeten Familie die belagerte Stadt verlassen habe. Eigentlich
hatte er keine Zeit, lange darüber nachzudenken; die
Futtersuche für die Tiere nahm seine ganze Zeit in Beschlag.
Anfangs fand er gelegentlich noch ein offenes Ohr beim Schlachthof
und bei den wenigen verbliebenen Metzgern der Stadt, aber
inzwischen assen die Leute alles von einem Tier.
Und von den ausgebeinten Skeletten allein konnte der Bengalische
Tiger nicht leben. Die paar kleineren Tiere, Pfauen, Kaninchen,
Tauben und Möwen, die täglich Beute der jungen
Preisschützen in den Hügeln wurden, reichten längst
nicht, um ihn zu füttern.
Der Tiger lief nicht mehr vor den Gittern auf und ab, wobeisich
die Flecken auf seinem glänzenden Fell zum Rhythmus seiner
Füsse mitbewegten, sondern lag nun mit eingefallenen,
keuchenden Flanken apathisch in einer Ecke des Käfigs.
Ein schrecklicher Anblick.
So war es gekommen. So war er dazu gekommen. Die wenigen Menschen,
die ihm auf der Strasse begegneten, dachten vermutlich, dass
er eine Leiche zum Friedhof brachte. Oder vielleicht wussten
sie, wohin er mit der Leiche ging, aber es war ihnen einerlei,
solange sie nicht selbst auf seinem Karren lagen. Jedesmal,
wenn er mit einer Leiche zum Zoo fuhr, suchte
er einen anderen Weg zum Tigerkäfig, um die Möglichkeit,
von den Heckenschützen entdeckt zu werden, so gering
wie möglich zu halten.
Das erste Mal hatte er, flau vor Selbstüberwindung, den
Körper eines alten Mannes ohne Schuhe in den Käfig
geschoben und war sofort nach Hause gegangen, ohne sich um
die anderen Tiere zu kümmern.
Es ging jetzt nur noch um den Tiger. Er suchte die auf den
Strassen liegenden Leichen sorgfältig aus. Stinkende
Körper rührte er nicht an, ebenso wenig die von
toten Frauen und Kindern. Mehrmals wurde er beim Transport
zum Tiergarten beinahe selbst getroffen. Als ein Rad von seinem
Karren geschossen wurde, hatte er den Körper des Toten
über eine Schulter gelegt und zu einem Loch im Zaun geschleppt.
Während er sich bückte, um mit der freien Hand einen
Durchlass zu machen, spürte er den Körper auf seinem
Rücken zweimal nacheinander heftig zucken. Er erstarrte
kurz, begriff dann, was geschehen war.
An den Füssen zerrte er die Leiche über den kleinen
Rasen zum Käfig. Sobald ihn der Tiger erblickte, sprang
er in seiner vollen Länge an den Gitterstäben hoch,
gross und ehrfurchtgebietend mit seinem triumphierenden Körper,
seinen an den Eisenstäben nach unten kratzenden Nägeln.
Der Tiger war prachtvoll. So schön war er noch nie gewesen.
Mit geneigtem Haupt und wütend hin- und herpeitschendem
Schweif wartete er, bis der Wärter die Luke geöffnet
hatte
und den Leichnam hineinschob. Dann stieg ein schauerliches
Brüllen auf, das die Heckenschützen in den Hügeln
nach ihren Gewehren greifen liess.
Der Mann im Zoo stand in aller Ruhe vor dem Käfig, aus
dem das Gebrüll aufstieg. Er bewegte sich nicht. Schien
von dem fasziniert zu sein, was er vor sich sah. In Wirklichkeit
dachte er an die zwei Kugeln im Fleisch des Toten. Wie sie
nun im lebenden Körper des Tigers weiter ihren Weg suchen
würden.
Der Tiger im Käfig hatte der Leiche den linken Arm abgerissen.
Er hielt den Arm bei der Schulter in seinem Maul. Abgetrennte
Nerven und Sehnen hingen wie ein Knäuel Spaghettifäden
aus dem blutigen Fleisch.
In all seiner Pracht schritt der Tiger mit dem abgerissenen
Arm, in einem braunen Ärmel, auf ihn zu. Impulsiv ergriff
er die Hand, die ihm durch die Stäbe hingestreckt wurde,
als wolle
er den Toten noch retten. Die Uhr am Handgelenk zeigte Viertel
vor vier.
Einer der Männer in den Hügeln sah durch sein Zielfernrohr,
wie der Mann dort unten im Zoo den Tiger mit einem Menschenarm
fütterte. Er zögerte keinen Moment.
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