Wie Adrian Stoller darauf
wartete, dass Rina, die er im Urlaub kennen gelernt hatte,
ihn bei sich zuhause mit ihrem Auto abholen würde, um
mit ihr zusammen zu einer dreimonatigen Sprachschule nach
Florenz zu fahren (»il duomo, il ponte vecchio, il bello
David«), und wie er immer länger wartete in seiner
Wohnung und allmählich unsicher wurde, ob etwas mit der
Abmachung nicht stimmte, oder mit ihm, oder mit den Koordinaten
Raum und Zeit
Zukunft
Die Zukunft, dachte Adrian im Parkettzimmer (das er so bezeichnete,
weil es so gross war und er immer auf dem Boden lag und durch
die Fenster an den Himmel schaute), ist äusserst unzuverlässig.
Hat man sich einmal auf eine mögliche Variante eingestellt,
die einem dazu noch schlüssig scheint, kommt es garantiert
und immer anders. Die Zukunft, dachte er, darf
man nur als Phantasiemotor benutzen, sie ist reine Phantasie,
eigentlich gibt es gar keine Zukunft: Kaum hat man sie sich
ausgemalt, wird sie schon widerlegt, und nach einer gewissen
Zeit betrachtet man Dinge, die ständig widerlegt werden,
eben als falsch, oder als inexistent. Im Parkettzimmer dachte
Adrian, was mache ich nur, während sie, nachdem sie geklingelt
hat, die Treppen hochsteigt, komme ich dann wie überrascht
mit einem Geschirrtuch in der Hand zur Tür? Lasse ich
die Wohnungstür einen Spalt breit offen stehen? Wer sagt
zuerst etwas? Er dachte, es ist jedenfalls nicht verboten,
sich solche Dinge zu überlegen. Aber man darf auch hoffen,
dass man von den Ereignissen überrascht wird. Wer überrascht
wird, ist spontaner, das wusste Adrian (siehe unten: Zufall).
Kombinationsspiel
Adrian und Rina waren eigentlich gute Kandidaten für
das Kombinationsspiel: Adrian dachte manchmal beim Einschlafen
auch an Marion mit den grossen Augen, die Schwester einer
Mitbewohnerin, und vielleicht ein bisschen an die blonde Cathrin,
mit der er einmal nackt im See gebadet hatte. Mit Rina zusammen
waren das für ihn im Moment drei Kombinationsmöglichkeiten
(von denen er wusste – es konnte sich ja immer ganz
plötzlich etwas ergeben), alles nichts Konkretes, nur
ungenau im Möglichkeitenraum Schwebendes. Für Rina
hingegen gab es immer schon und eindeutig Peter (von dem Adrian
nichts wusste), auf den sie aber gerade stinkwütend war,
weil er immer mit dem Barmann vom Blue herumschäkerte
und öfter als nötig nach der Polizeistunde mit ihm
noch eins trinken ging. Und ausserdem war da kürzlich
noch ihr Auftraggeber gewesen, dessen Porsche sie verkratzt
hatte (siehe unten: Parkplatzproblem), ein Ausflug ins Grüne,
so hatte er es formuliert. Insgesamt eine recht hoffnungslose
Ausgangslage dafür, dass den beiden das Kombinationsspiel
glücken würde, doch gerade darum nicht unwahrscheinlich.
Mode
Etwas in der Richtung hatte Rina studiert. Und jetzt fertigte
sie Kleider für alle möglichen wichtigen Kunden,
die ihr immer wieder grossartige Szenen machten in ihrer kleinen
Bude, worauf sie sie kurzerhand vor die Tür stellte,
wo sie weiter schimpften, aber nichts machen konnten, ausser
darauf zu warten, dass sie sich erweichen liess und das massgefertigte
Kleidungsstück ein paar Stunden später gegen einen
nicht unbeachtlichen Aufpreis herausrückte. Sie lief
selber umher in weiten, eigenwilligen Kreationen. Und manchmal
stolperte sie auch drüber, doch das war selten (siehe
weiter unten).
Hochnebel
Ein unsagbar trüber Winter war das gewesen. Adrian hatte
noch nie so etwas erlebt. Oder lag es nur an ihm? Hatte sich
völlig treiben lassen, spät nachts noch in irgendwelchen
Bars herumgesessen, mit Freunden seiner Mitbewohner, war einfach
mitgegangen und hatte nie ein Wort gesagt. Pilotfisch hatten
sie ihn genannt, der kleine Begleiter der Walfamilien. Tanzhallen
irgendwo im Industriequartier, dann stundenlanges Nachhauselaufen
durch die Nacht. Hatte viel an Rina gedacht, an die wenigen
Briefe, Telefonate, und hatte sie einmal in der tanzenden
Menge zu sehen geglaubt. Die Tränen schossen ihm in die
Augen, er setzte sich auf den Boden vor den Toiletten, mitten
in die Lachen, und liess dem Schluchzen freien Lauf. An diesem
Abend ging ihm erstmals die Frage auf: Ob der letzte Sommer
vielleicht zu schön gewesen sei? Ein kurzer, heller Blitz,
und man ist für immer aus dem Lot.
Parkplatzproblem
Rina würde an dem Tag kein Parkplatzproblem haben, denn
sie hatte nie eines. Erstens hatte sie einmal den Saab Cabrio
ihres Chefs zweieinhalb Minuten auf dem Helikopterlandeplatz
des Spitals stehen lassen (aussteigen, ungesehen am Schwesternzimmer
vorbeischleichen, operierten Chef aus dem Bett holen, ihn
anziehen, wieder am Schwesternzimmer vorbei, in der Toilette
vor den Liften kurz pinkeln, Chef wieder unterhaken, Auflauf
von Weissberockten zerstreuen und mit Vollgas vom Gelände
brausen). Zweitens hatte sie ein anderes Auto dieses Chefs
(bei dem sie übrigens nur knapp zwei Monate arbeitete,
als Chauffeuse, Kaffeemacherin und Partybegleiterin), den
schwarzen Carrera, mächtig angekratzt beim ersten Ausbiegen
aus dem Parkplatz (ja, ja, die Porsche-Kupplung), worüber
aber er und sie kein Wort verloren auf der weiteren nicht
unturbulenten Fahrt hinaus aufs Land, in jenen Gasthof. Und
drittens durfte ihr elfenbeinfarbener Käfer, wie sie
immer sagte, sowieso überall parkieren, weil sie sich
viertens jeden aufschreibenden Polizisten um den Finger wickelte
und fünftens generell keine Bussen bezahlte. Unter Adrians
Wohnung (im Zentrum der Altstadt) befand sich ein grosser
Parkplatz. Sie kam von Norden, in die Altstadt würde
sie über die Hauptverkehrsachse von Nordwesten her einfahren.
Adrian wusste gar nicht, aus welchem Fenster er kucken sollte,
jedenfalls musste er auf alles gefasst sein.
Wie man es auch sehen könnte
Mann träumt am hellen und heiteren Tag von Frau, die
ihn nach Italien entführen wird, und verbringt deshalb
einen hypertonischen Nachmittag, an dem nichts passiert. Oder:
Frau findet und findet die verdammte Strasse nicht und reist
durch eine völlig unglaubwürdige Verquickung von
Umständen ohne ihn weiter (siehe unten: Zufall). Oder:
Die beiden sind schlicht und einfach nicht füreinander
geschaffen (siehe oben: Kombinationsspiel).
Zufall
Um elf hatten sie abgemacht, zuhause losgefahren war Rina
um sieben, das heisst, es wurde dann Viertel vor acht, bis
sie endlich fuhr. Weil ihr auf dem Weg eingefallen war, noch
kurz bei einem alten Bekannten vorbeizuschauen, kam sie erst
kurz vor zwei in der Stadt an. Weil einer von Adrians Mitbewohner
das Telefon nicht richtig aufgelegt hatte, konnte sie, nachdem
sie die Strasse bestimmt eine Dreiviertelstunde lang gesucht
hatte, Adrian die ganze Zeit nicht erreichen. Beim Aussteigen
auf der Brücke über den Fluss rutschte ihr der Autoschlüssel
aus der Hand, fiel auf den Gullydeckel, hüpfte einmal
kurz und blieb quer auf den Metallstäben liegen. Was
für ein Dussel, dachte Rina, aber auch: Das ist ein Zeichen.
Um Viertel nach drei hatte sie das Auto endlich vor einem
Laden in der Fussgängerzone neben Adrians Haus abgestellt
und schaute die Fassade hoch. (Was Adrian zu der Zeit machte,
siehe unten: Muss man?) Sie steckte sich eine Zigarette an,
betrachtete ermattet die Passanten, die an der Ladenfront
entlang schlenderten und erstaunt einen Bogen um den hellen
VW Käfer machten. Nach der Hälfte der Zigarette
kurbelte sie die Scheibe herunter, warf den Stummel hinaus,
Scheibe wieder hoch. Sie sprang aufs Pflaster hinaus, warf
die Autotür hinter sich zu, stürmte voran, blieb
stehen, kehrte noch einmal zurück, Handtasche holen,
Spiegelkontrolle, und los. Im Treppenhaus drückte sie
sich am Postboten vorbei, der ein Paket unter dem Arm trug,
und stiess an einen Stapel Apfelkisten des danebenliegenden
Cafés, der Stapel fiel um und eine Kiste ihr direkt
auf den Spann. Als sie in die Knie ging, hatte der Postbote
gerade die Türklinke in der Hand und schaute draussen
auf die Klingelschilder, kehrte aber noch einmal um. Der Strumpf
war gerissen, ein heller Fuss inmitten von Äpfeln.
Muss man?
In der Küche hatte Adrian gar nicht so lange
gesessen, die meiste Zeit hatte er auf der Toilette verbracht:
Verdauungsschwierigkeiten, wegen einer ungewöhnlich grossen
Aufregung nach einer langen Zeit der Nichtaufregung. Ein Mitbewohner
hatte am Morgen sein Zimmer neu gestrichen, jetzt standen
die Eimer und Pinsel im Bad, starker Geruch. Die Steuererklärung:
hätte er machen müssen, schon zum letzten Einunddreissigsten
(gemäss Mahnung), hatte sie erneut erfolgreich verschoben.
Fragen wir uns einmal im tiefsten Innern, sagte er sich, muss
man eine Steuererklärung wirklich machen? Man weiss es
nicht, sagte er, auf der Toilettenschüssel hockend, das
ist die Antwort. Unsereiner zieht so oft um und hat so unklare
Geldquellen. Klar muss man, wenn man im Rahmen der Gesellschaft
denkt, sobald man aber ein bisschen darüber hinaus denkt,
weiss man es schlicht und einfach nicht, und das muss man
erst einmal den Mut haben sich einzugestehen. Ähnlich
argumentierte er auch über Rinas Kommen. Zuerst hatte
er noch bangend gewartet. War dann unsicher geworden. Und
hatte schliesslich eingesehen: Wann kommt Rina? – Man
weiss es nicht. – Kommt Rina überhaupt? –
Kann man nicht sagen. Kann man umso weniger sagen, als man
sie schon ein bisschen kennt. – Muss man sich auf ihr
Kommen vorbereiten? – Muss man nicht, fand Adrian. Darum
verliess
er im Verlauf des frühen Nachmittags die Toilette und
ging sich noch schnell rasieren, dabei immer wieder innehaltend
und auf einen möglichen Klingelton horchend. Dann murmelte
er, im Gang auf und ab gehend: io aspetto, tu aspetti, lui
aspetta, noi aspettiamo … Als er den Spruch zehn Mal
aufgesagt hatte und vor dem in der Mitte seines Zimmers bereitstehenden
Rucksack und der Papiertüte mit dem Parfum für Rina
stehen blieb, wusste er einfach nicht mehr wie warten und
musste ein bisschen weinen. Er setzte sich auf den Boden,
bis es vorbei war.
Pass auf, mein Fuss
In den Genuss dieses ständig wiederholten Sätzchens
kam nicht Adrian, sondern ein anderer.
Büchersendung
Als es klingelte, sprang Adrian wie elektrisiert
auf, setzte sich dann wieder und stand noch einmal langsam
auf. Er ging zur Eingangstür, horchte, wartete noch einmal
zwei, drei Sekunden und drückte dann den Summer. Er machte
die Tür auf, hörte eine Frauenstimme, zuckte zusammen,
dann gleich darauf eine Männerstimme, und als er die
schnellen, schweren Schritte hörte, sprang er zurück
in die Wohnung, bereits misstrauisch: Das Glück würde
nicht in so grossen Schuhen zu ihm kommen. Er unterschrieb
mürrisch die Empfangsbescheinigung, den jungen Mann dabei
kaum ansehend, murmelte einen Dank. Im Paket war offenbar
ein Weinbuch, für einen seiner Mitbewohner.
An einem Strand
Letzten Sommer hatte Adrian noch Pep gehabt. Hatte
die alleinige Blonde gesehen am Strand, die immer wieder von
Einheimischen angequatscht wurde, hatte es sich lange überlegt,
und war dann, als sie ins Wasser ging, ebenfalls aufgestanden
und ihr gefolgt. Am Abend assen sie zusammen, spazierten Hand
in Hand durch die Altstadt, fütterten einander mit Eis,
verstohlene Küsse, und als sie gegen Morgen erschöpft
in einer Bar Platz nahmen, fragte er: Wie heisst du eigentlich?
Dann war dieser lange, lange Herbst gekommen und der Winter,
in dem nie die Sonne schien (siehe oben: Hochnebel). Das Frühjahr
hatte er wie hinter Milchglas verbracht, völlig passiv.
Und jetzt hatte Adrian keinen Pep mehr. Rina hatte ihn eine
Woche zuvor angerufen, ihm im Detail den Plan erklärt,
er hatte sofort ja gesagt, und dann kam ihm in den Sinn, dass
es gar nicht in seine Semesterferien passte. Er rief sie sofort
zurück, sagte, ich muss noch kurz überlegen, und
liess ihr eine halbe Stunde später (warum war sie schon
wieder
so schnell weg?) durch diesen Typen ausrichten, gebongt. Ob
der es ihr gesagt hatte? Adrian sass in seinem Parkettzimmer
auf dem Boden und ging noch einmal alle Möglichkeiten
durch, wie sie einander missverstanden haben könnten.
Kurz nach drei schaute einer seiner Mitbewohner zur Tür
herein, fragte, ob es ihm gut gehe (er hatte gegenüber
den anderen nichts von seiner bevorstehenden Reise verlauten
lassen, auch so ein Zeichen), und schloss sie wieder. Adrian
horchte alle Viertelstunden auf die Schläge der nahen
Kirchturmuhr. Um Viertel vor fünf stand er auf, nahm
die Papiertüte, trat zum Fenster, drehte am Messinggriff,
nahm das Fläschchen aus der Tüte, drehte den Verschluss
auf und leerte den Inhalt hinunter auf das vier Stockwerke
unter ihm liegende Kopfsteinpflaster. Seine Hand zitterte
dabei.
Wie Rina gepackt hatte
Schnell: Toilettenbeutel und ein bisschen Wäsche
in die Sporttasche, Handtasche gegriffen, Blick in den Spiegel,
Treppe runter, Autotür auf, alles mit Schwung auf den
Hintersitz, Zündschlüssel gedreht und los. Hatte
sie tatsächlich vorgehabt, für drei Monate wegzufahren?
Lesen
Lesen konnte Adrian an diesem Nachmittag nicht. Er
war aber auch nicht der Typ, sich genau vorbereiten zu wollen.
Einmal in Italien, würde er sich schon zurecht finden.
Hauptsache, jemand, den er jetzt nicht nennen wollte, wäre
endlich an seiner Seite. E l’italiano, già lo
sapeva un po’.
Kino
Der Film, in dem Rina nur drei Häuser weiter
sass, gefiel beiden nicht, weder ihr noch Marek, aber Marek
hatte nicht in den früheren gekonnt, weil er seine Tour
noch nicht fertig gehabt hatte und noch im Hauptamt die nichtabgegebenen
Pakete einsortieren musste (siehe oben: Büchersendung).
Eigentlich hätte sie in der Zeit, als sie im Café
unten im Haus auf ihn wartete und mit dem Jungen am Nebentisch
quatschte, auch zu Adrian hochgehen können. Doch das
fiel ihr erst später ein.
Die Postkarte aus New York, ein halbes Jahr später
Adrianitschowitsch! Weisst du, was ein … ist?
Kannst du dir vorstellen, wie es groovt hier? Es ist der Tagundnachtfahrstuhl.
Schlafen wieder daheim. Gestern Defilee mit Mick. Nichts verkauft,
aber viele Blitzlichter. Ciao Kleiner Rina Who the fuck are
you? Come along, helluva lota space in my loft. Bring some
more of these overseas bitches, they’re worth the cloth.
Scolton I hate to rhyme when I drink lime with rum Baccardi
all around me looks so tardy Sarah Forget the Krauts! (unleserlich)
Firenze
Una città meravigliosa, devi assolutamente
visitarla, stand auf dem Prospekt, den Adrian noch immer auf
seinem Schreibtisch liegen hatte.
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