Ob es eine syrische Literatur
und damit eine spezifisch syrische Kurzgeschichte gibt, ist
eine immer wieder auftauchende Streitfrage (die entsprechend
auch für andere arabische Länder gestellt wird).
Dass eine solche Frage überhaupt aufgeworfen wird, hat
hauptsächlich zwei Gründe: Erstens einen sprachlichen.
Die in Syrien verfasste Literatur, zumal Poesie und Prosa,
verwendet dieselbe Sprache, die auch für literarisches
Schaffen in Irak oder in Marokko, in Kuwait oder in Jemen
verwendet wird. Genauer, die Struktur dieser Sprache, des
Schriftarabischen, ist zwischen Atlantikküste und Zweistromland
dieselbe, ebenso das Vokabular und die Idiomatik. Letztere
können hier und da ein wenig variieren, wenn regionalspezifische
Wörter einfliessen oder Dialektbesonderheiten durch die
Schriftsprache »hindurchschimmern«. Phänomene
also, die durchaus der Verwendung der deutschen Schriftsprache
zwischen Friesland und dem Oberwallis entsprechen. Zweitens
gibt es einen politisch-historischen Grund für die Streitfrage
um die Existenz oder Nichtexistenz einer syrischen Literatur.
Syrien, als Nationalstaat dieses Namens, existiert noch nicht
allzu lange und ist nicht eigentlich aus einer innerregionalen
Entwicklung hervorgegangen. Bevor Frankreich und Grossbritannien
in der Folge des Ersten Weltkriegs das Land aus der Erbmasse
des Osmanenreichs herausschnitten, dachte man in Provinzen
und Regionen, und so bleibt die Beantwortung der Frage, wie
weit sich innerhalb der »erst« etwa achtzigjährigen
Grenzen Syriens eine eigenständige, spezifisch syrische
Literatur entwickelt hat, ein wenig der persönlichen
– vielleicht politisch motivierten – Überzeugung
überlassen. Jedenfalls gibt es in Syrien inzwischen drei,
vier Generationen von Autoren und Autorinnen, die insofern
syrische sind, als sie über die syrische Staatsangehörigkeit
verfügen und das Leben und Denken von Syrern und Syrerinnen
reflektieren, über politische, gesellschaftliche Verhältnisse
nachdenken, Träume von Gegenwelten gestalten, kulturelle
Traditionen der Region verarbeiten und sich dabei regionaler
und internationaler Stilarten und Darstellungsweisen bedienen.
Und bei diesen drei bis vier Generationen zeigen sich –
mit zeitlicher Verschiebung und lokaler und individueller
Besonderheit – mehr oder minder dieselben Aspekte und
Tendenzen wie in anderen arabischen Ländern. Die ersten
dreissig Jahre der syrischen Republik seien, so wird in einschlägigen
Darstellungen ziemlich überzeugend festgestellt, literarisch
eher dürftig gewesen. Von Kinderschuhen ist da die Rede,
in der die Prosa noch gesteckt habe, oder von Adaptionen europäischer
Muster. Erst in den fünfziger Jahren sei durch das Werk
mehrerer Autoren, später dann auch Autorinnen, innerhalb
Syriens eine Prosa von einiger Bedeutung zum Durchbruch gelangt.
1951 wurde der syrische Schriftstellerverband gegründet,
dem bald die damals jungen Autoren beitraten, die zu jener
Zeit ihre ersten Werke gerade publiziert hatten oder bald
publizieren sollten: Zu den ersteren gehören Abdassalâm
al-Udschaili (geb. 1918), in dessen realistischen Erzählungen
vom einfachen Leben auch Schicksalswirken und religiöse
Elemente Platz haben. Ebenso Saîd Hauranîja (1937–1994),
durch dessen Kurzgeschichten, mittels detaillierter Darstellung
unterprivilegierter Schichten, ein starkes Element des Klassenkampfs
in die syrische Literatur eingeführt wurde und den man
deshalb auch schon als »Gorki der syrischen Literatur«
bezeichnet hat. Zu dieser Gruppe gehört auch Hanna Mina
(geb. 1924), der bis heute bekannteste und produktivste Romanautor
Syriens, auch er stark durch einen klassenkämpferischen
Sozialismus geprägt. In dieser frühen Phase spielte
und spielt vielleicht bis heute die Kurzgeschichte, wie auch
anderswo in der arabischen Welt, zusammen mit oder noch vor
dem Roman eine herausragende Rolle. 775 Sammelbände mit
Kurzgeschichten sollen zwischen 1964 und 1995 in Syrien erschienen
sein. Die Prosa, so hört und liest man immer wieder,
sei die Schreibart der modernen Zeit. Die Kurzgeschichte habe
die Rolle des Gedichts in der alten arabischen Literatur übernommen,
als dieses – wie es in einer berühmten Passage
heisst – »die Quelle der Kenntnis der Araber,
das Buch ihrer Weisheit, die Stammrolle ihrer Geschichte …«
gewesen sei. Die Kurzgeschichte, so vernimmt man heute entsprechend,
diene zur Darstellung kleiner Momente oder entscheidender
Augenblicke, wesentlicher Wendepunkte oder besonderer Empfindungen.
Dazu kommt aber sicher noch ein Weiteres, nämlich die
Publikationsmöglichkeit. Kurzgeschichten wurden und werden
noch in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt,
wie Gedichte auch – im Gegensatz zu Romanen, die nur
selten einmal in Auszügen übernommen werden. Auch
die Stilarten, derer sich die Prosa in Syrien seit Anfang
der fünfziger Jahre bedient, gleichen den in den Nachbarländern
verwendeten – mit spezifischer syrischer Gewichtung,
die sich durch die Geschichte der Region und die politische
Entwicklung des Landes erklärt. Hier hat der Kontakt
mit der ausserarabischen Welt eine prägende Rolle gespielt.
Zunächst waren es französische und russische Einflüsse,
später auch anglo-amerikanische und deutsche. Stark ausgeprägt
ist, wie schon angedeutet, von Anfang an der Realismus in
seinen verschiedenen Ausgestaltungen, zumal der des sozialistischen
Realismus, der durch die Gesellschaftsvisionen der Baath-Partei
gefördert wurde, die im Jahre 1963 die Macht im Lande
übernahm. Doch mischt sich in diesen Stil früh auch
schon Dissonantes, verkörpert in Syrien besonders im
Schreiben von Sakarija Tamer (geb. 1931), der sich in seinen
seit Ende der fünfziger Jahre erscheinenden Kurzgeschichten
nicht an literarische Konventionen hält, dem herrschenden
Stil eine Absage erteilt und bewusst die Grenzen zwischen
rational und irrational, zwischen logisch und unlogisch, zwischen
vernünftig und absurd verwischt. Diese Tendenz wird gefördert
durch die politischen Entwicklungen der sechziger Jahre, besonders
durch die verheerende arabische Niederlage im Juni 1967, die
für viele arabische Intellektuelle den offiziellen Diskurs
als hohl entlarvt und in der Literatur zu einer Stilablösung
oder jedenfalls zu einer stilistischen Diversifizierung geführt
hat. Der Held wird zum Anti-Helden auf der Suche nach sich
selbst und nach der Wirkung einer als grotesk empfun- denen
Welt. Negative Gefühle wie das der Eingeschlossenheit,
der Einsamkeit, der Enge und der Beklemmung, der Relativität
von Wahrheit oder der Langeweile werden der Weltbeschreibung
zugrunde gelegt. Zusätzlich zeugen Traum und Erinnerung
von einer veränderten Wahrnehmung von Zeit und Raum,
und das symbolische Verständnis von Realität vervielfacht
die Bedeutungsebenen des Erzählten. Dass zahlreiche Autoren
und Autorinnen in Syrien sich diesen neuen Tendenzen verschliessen,
wird dort durch den Konservatismus der staatlichen Organe
im Bereich der Literatur begründet. Offiziell würden
noch immer die Schreibstile gewisser »Altmeister«
aus der Zeit sogar noch vor dem Zweiten Weltkrieg als modellhaft
gelehrt, was bei der Kurzgeschichte eine Anknüpfung an
Innovatoren wie den Ägypter Jussuf Idris oder eben den
genannten Syrer Sakarija Tamer schwierig mache. Dennoch gibt
es in Syrien zahlreiche Versuche in dieser Richtung, zumal
während der vergangenen fünfzehn bis zwanzig Jahre,
Versuche, auf der Grundlage eines zutiefst erschütterten
Bewusstseins von der Verlässlichkeit der herrschenden
Verhältnisse literarische Werke zu schaffen. Schon lange,
so die Grundannahme, kann es nicht mehr um ein sogenanntes
realistisches Abbild der existierenden Verhältnisse gehen.
Es komme darauf an, sie aus neuen spezifischen Perspektiven
– auch mittels Entstellungen, Karikierungen, Fantasierungen
oder anderen Akzentuierungen – zu charakterisieren.
Natürlich lässt sich die Erzählliteratur eines
Landes, auch wenn die literarische Produktion insgesamt begrenzt
ist wie in Syrien, nicht auf dreissig Seiten oder durch Beispiele
aus der Feder von fünf Autor(inn)en adäquat oder
gar hinlänglich vorstellen. Doch zeigen die fünf
hier zu Wort Kommenden durchaus eine gewisse Bandbreite literarischen
Schaffens, sowohl thematisch als auch stilistisch.
Die Anregung zu diesem Dossier »syrische
Kurzgeschichten« gab ein Kolloquium zu diesem Thema,
das im Herbst 2002 im IFEAD (Institut français d’études
arabes à Damas) durchgeführt wurde und das mir
dankenswerterweise die Möglichkeit gab, etwa fünfzehn
syrische Autoren und Autorinnen kennenzulernen, von deren
Werken bislang praktisch nichts in Übersetzungen verfügbar
ist.
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