Nummer 119 Zurück zum Archiv

Geschichten aus Syrien

Erscheinungsdatum: August 2004

Auszüge:
Inhaltsverzeichnis
Über dieses Heft
Hartmut Fähndrich: Syrische Kurzgeschichten
Faissal Chartasch: Der Mann, der seinen Vater lebendig begrub
Colette Naîm Bahna: Eine Idee
Rudolf Bussmann über Zsuzsanna Gahse: „durch und durch“
 
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Inhaltsverzeichnis

(Unterstrichene Texte können angewählt werden)

Lieber Leser
Rudolf Bussmann: Fisimatenten
Geschichten aus Syrien

Einleitung von Hartmut Fähndrich
Faissal Chartasch
Colette Naîm Bahna
Ibrahîm Samauîl
Nadschmaddîn Sammân
Dschamîl Hatmal

Gegenzettel
Ingrid Fichtner: Flügel, Fragmente
Zsuzsanna Gahse: Tarzan
Anne Blonstein: Gedichte
Markus Stegmann: Gedichte
Eine Nacht im Leben von Hanna Johansen
Besprechungen und Hinweise
Rudolf Bussmann über Zsuzsanna Gahse
Christoph Wegmann über Klaus Merz
Werner Morlang über Adelheid Duvanel
Elsbeth Pulver über Bruno Steiger
Martin Zingg über anregendes Sekundäres
Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren Die Autorinnen und Autoren
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Über dieses Heft

Liebe Leserin, lieber Leser,

Lange nichts mehr von Syrien gehört. Das Land ist verlorengegangen in einem Konflikt, der aus ihm eine strategische Grösse gemacht hat, je nach Optik und Opportunität einen Verbündeten oder einen Schurkenstaat. Die syrische Kunst und Literatur, auch die Schätze der uralten syrischen Kulturlandschaft, sind aus dem Medienbewusstsein verschwunden. Schriftstellerinnen und Schriftsteller führen im Vergleich zu ihren europäischen Kollegen ein marginales Dasein. Sie leben zum einen in einem Land, dessen Flug- und Warenverkehr durch die Sanktionen der USA eingeschränkt ist. Zum andern bietet ihnen die Kulturpolitik ihres Landes keinerlei Rückhalt, sich auf dem internationalen Parkett zu profilieren – das ist im Vorfeld der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, wo die arabischen Schriftsteller fehlten und die Funktionäre das Wort führten, hinlänglich klar geworden. Und schliesslich sind sie auch im arabischen Raum wenig präsent: In den letzten zwanzig, dreissig Jahren gab es keine länderübergreifende arabische Buchkultur; die Bücher finden, wie der libanesische Schriftsteller Hassan Dawud in der NZZ vom 17. März 2004 darlegt, praktisch nur eine Leserschaft im eigenen Land. So sind die hier vorgestellten Autorinnen und Autoren zwar in Syrien, kaum aber über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Ins Deutsche sind sie bislang nicht übersetzt worden. Ihre Texte eröffnen den Blick auf eine Literatur, die, wie unser einleitendes Essay aufzeigt, zwischen alter Erzähltradition und westlichen Einflüssen den eigenen Weg finden muss. Wir danken Hartmut Fähndrich, der die Texte ausgewählt und übersetzt hat, für seine wertvolle Vermittlungsarbeit. Ebenfalls sei dem Hamburger Fotografen Kurt-Michael Westermann sowie allen, die zur vorliegenden Nummer beigetragen haben, bestens gedankt. – Am Schluss des Heftes sind wie immer Besprechungen, Hinweise und die Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren zu finden.

Rudolf Bussmann und Martin Zingg

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Hartmut Fähndrich Syrische Kurzgeschichten

Ob es eine syrische Literatur und damit eine spezifisch syrische Kurzgeschichte gibt, ist eine immer wieder auftauchende Streitfrage (die entsprechend auch für andere arabische Länder gestellt wird). Dass eine solche Frage überhaupt aufgeworfen wird, hat hauptsächlich zwei Gründe: Erstens einen sprachlichen. Die in Syrien verfasste Literatur, zumal Poesie und Prosa, verwendet dieselbe Sprache, die auch für literarisches Schaffen in Irak oder in Marokko, in Kuwait oder in Jemen verwendet wird. Genauer, die Struktur dieser Sprache, des Schriftarabischen, ist zwischen Atlantikküste und Zweistromland dieselbe, ebenso das Vokabular und die Idiomatik. Letztere können hier und da ein wenig variieren, wenn regionalspezifische Wörter einfliessen oder Dialektbesonderheiten durch die Schriftsprache »hindurchschimmern«. Phänomene also, die durchaus der Verwendung der deutschen Schriftsprache zwischen Friesland und dem Oberwallis entsprechen. Zweitens gibt es einen politisch-historischen Grund für die Streitfrage um die Existenz oder Nichtexistenz einer syrischen Literatur. Syrien, als Nationalstaat dieses Namens, existiert noch nicht allzu lange und ist nicht eigentlich aus einer innerregionalen Entwicklung hervorgegangen. Bevor Frankreich und Grossbritannien in der Folge des Ersten Weltkriegs das Land aus der Erbmasse des Osmanenreichs herausschnitten, dachte man in Provinzen und Regionen, und so bleibt die Beantwortung der Frage, wie weit sich innerhalb der »erst« etwa achtzigjährigen Grenzen Syriens eine eigenständige, spezifisch syrische Literatur entwickelt hat, ein wenig der persönlichen – vielleicht politisch motivierten – Überzeugung überlassen. Jedenfalls gibt es in Syrien inzwischen drei, vier Generationen von Autoren und Autorinnen, die insofern syrische sind, als sie über die syrische Staatsangehörigkeit verfügen und das Leben und Denken von Syrern und Syrerinnen reflektieren, über politische, gesellschaftliche Verhältnisse nachdenken, Träume von Gegenwelten gestalten, kulturelle Traditionen der Region verarbeiten und sich dabei regionaler und internationaler Stilarten und Darstellungsweisen bedienen. Und bei diesen drei bis vier Generationen zeigen sich – mit zeitlicher Verschiebung und lokaler und individueller Besonderheit – mehr oder minder dieselben Aspekte und Tendenzen wie in anderen arabischen Ländern. Die ersten dreissig Jahre der syrischen Republik seien, so wird in einschlägigen Darstellungen ziemlich überzeugend festgestellt, literarisch eher dürftig gewesen. Von Kinderschuhen ist da die Rede, in der die Prosa noch gesteckt habe, oder von Adaptionen europäischer Muster. Erst in den fünfziger Jahren sei durch das Werk mehrerer Autoren, später dann auch Autorinnen, innerhalb Syriens eine Prosa von einiger Bedeutung zum Durchbruch gelangt. 1951 wurde der syrische Schriftstellerverband gegründet, dem bald die damals jungen Autoren beitraten, die zu jener Zeit ihre ersten Werke gerade publiziert hatten oder bald publizieren sollten: Zu den ersteren gehören Abdassalâm al-Udschaili (geb. 1918), in dessen realistischen Erzählungen vom einfachen Leben auch Schicksalswirken und religiöse Elemente Platz haben. Ebenso Saîd Hauranîja (1937–1994), durch dessen Kurzgeschichten, mittels detaillierter Darstellung unterprivilegierter Schichten, ein starkes Element des Klassenkampfs in die syrische Literatur eingeführt wurde und den man deshalb auch schon als »Gorki der syrischen Literatur« bezeichnet hat. Zu dieser Gruppe gehört auch Hanna Mina (geb. 1924), der bis heute bekannteste und produktivste Romanautor Syriens, auch er stark durch einen klassenkämpferischen Sozialismus geprägt. In dieser frühen Phase spielte und spielt vielleicht bis heute die Kurzgeschichte, wie auch anderswo in der arabischen Welt, zusammen mit oder noch vor dem Roman eine herausragende Rolle. 775 Sammelbände mit Kurzgeschichten sollen zwischen 1964 und 1995 in Syrien erschienen sein. Die Prosa, so hört und liest man immer wieder, sei die Schreibart der modernen Zeit. Die Kurzgeschichte habe die Rolle des Gedichts in der alten arabischen Literatur übernommen, als dieses – wie es in einer berühmten Passage heisst – »die Quelle der Kenntnis der Araber, das Buch ihrer Weisheit, die Stammrolle ihrer Geschichte …« gewesen sei. Die Kurzgeschichte, so vernimmt man heute entsprechend, diene zur Darstellung kleiner Momente oder entscheidender Augenblicke, wesentlicher Wendepunkte oder besonderer Empfindungen. Dazu kommt aber sicher noch ein Weiteres, nämlich die Publikationsmöglichkeit. Kurzgeschichten wurden und werden noch in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt, wie Gedichte auch – im Gegensatz zu Romanen, die nur selten einmal in Auszügen übernommen werden. Auch die Stilarten, derer sich die Prosa in Syrien seit Anfang der fünfziger Jahre bedient, gleichen den in den Nachbarländern verwendeten – mit spezifischer syrischer Gewichtung, die sich durch die Geschichte der Region und die politische Entwicklung des Landes erklärt. Hier hat der Kontakt mit der ausserarabischen Welt eine prägende Rolle gespielt. Zunächst waren es französische und russische Einflüsse, später auch anglo-amerikanische und deutsche. Stark ausgeprägt ist, wie schon angedeutet, von Anfang an der Realismus in seinen verschiedenen Ausgestaltungen, zumal der des sozialistischen Realismus, der durch die Gesellschaftsvisionen der Baath-Partei gefördert wurde, die im Jahre 1963 die Macht im Lande übernahm. Doch mischt sich in diesen Stil früh auch schon Dissonantes, verkörpert in Syrien besonders im Schreiben von Sakarija Tamer (geb. 1931), der sich in seinen seit Ende der fünfziger Jahre erscheinenden Kurzgeschichten nicht an literarische Konventionen hält, dem herrschenden Stil eine Absage erteilt und bewusst die Grenzen zwischen rational und irrational, zwischen logisch und unlogisch, zwischen vernünftig und absurd verwischt. Diese Tendenz wird gefördert durch die politischen Entwicklungen der sechziger Jahre, besonders durch die verheerende arabische Niederlage im Juni 1967, die für viele arabische Intellektuelle den offiziellen Diskurs als hohl entlarvt und in der Literatur zu einer Stilablösung oder jedenfalls zu einer stilistischen Diversifizierung geführt hat. Der Held wird zum Anti-Helden auf der Suche nach sich selbst und nach der Wirkung einer als grotesk empfun- denen Welt. Negative Gefühle wie das der Eingeschlossenheit, der Einsamkeit, der Enge und der Beklemmung, der Relativität von Wahrheit oder der Langeweile werden der Weltbeschreibung zugrunde gelegt. Zusätzlich zeugen Traum und Erinnerung von einer veränderten Wahrnehmung von Zeit und Raum, und das symbolische Verständnis von Realität vervielfacht die Bedeutungsebenen des Erzählten. Dass zahlreiche Autoren und Autorinnen in Syrien sich diesen neuen Tendenzen verschliessen, wird dort durch den Konservatismus der staatlichen Organe im Bereich der Literatur begründet. Offiziell würden noch immer die Schreibstile gewisser »Altmeister« aus der Zeit sogar noch vor dem Zweiten Weltkrieg als modellhaft gelehrt, was bei der Kurzgeschichte eine Anknüpfung an Innovatoren wie den Ägypter Jussuf Idris oder eben den genannten Syrer Sakarija Tamer schwierig mache. Dennoch gibt es in Syrien zahlreiche Versuche in dieser Richtung, zumal während der vergangenen fünfzehn bis zwanzig Jahre, Versuche, auf der Grundlage eines zutiefst erschütterten Bewusstseins von der Verlässlichkeit der herrschenden Verhältnisse literarische Werke zu schaffen. Schon lange, so die Grundannahme, kann es nicht mehr um ein sogenanntes realistisches Abbild der existierenden Verhältnisse gehen. Es komme darauf an, sie aus neuen spezifischen Perspektiven – auch mittels Entstellungen, Karikierungen, Fantasierungen oder anderen Akzentuierungen – zu charakterisieren. Natürlich lässt sich die Erzählliteratur eines Landes, auch wenn die literarische Produktion insgesamt begrenzt ist wie in Syrien, nicht auf dreissig Seiten oder durch Beispiele aus der Feder von fünf Autor(inn)en adäquat oder gar hinlänglich vorstellen. Doch zeigen die fünf hier zu Wort Kommenden durchaus eine gewisse Bandbreite literarischen Schaffens, sowohl thematisch als auch stilistisch.

Die Anregung zu diesem Dossier »syrische Kurzgeschichten« gab ein Kolloquium zu diesem Thema, das im Herbst 2002 im IFEAD (Institut français d’études arabes à Damas) durchgeführt wurde und das mir dankenswerterweise die Möglichkeit gab, etwa fünfzehn syrische Autoren und Autorinnen kennenzulernen, von deren Werken bislang praktisch nichts in Übersetzungen verfügbar ist.

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Faissal Chartasch

Der Mann, der seinen Vater lebendig begrub

Die Leute kamen. Sie verteilten sich auf die Strassen, die Gassen und die Viertel. Dann erschienen die Händler und Handwerker und öffneten Läden und Geschäfte. Dazu sprachen sie »Im Namen Gottes«, »O Siegreicher«, »O Wissender«, »O Ernährer«, »O Grossmütiger«. Die Händler auf dem Baumwollmarkt machten es ebenso. Sie setzten sich in die Läden und bestellten ihren Morgenkaffee. Der Zeitungsverkäufer kam und verkaufte ihnen Nachrichten, an denen die Zeit genagt und geschlürft hatte. Darum nahm jeder von ihnen seinen Stift und begann, das Kreuzworträtsel zu lösen – nach dem verlorenen arabischen Staat zu suchen, einem Polartier mit drei Buchstaben oder einem ehemaligen arabischen Präsidenten. Sie waren noch nicht fertig damit, als der Lautsprecher der nahegelegenen Moschee Verse aus dem Heiligen Buch zu rezitieren anhub. Da bewegten sie die Lippen, reckten die Hälse und warfen sich durch die Schaufenster befremdete Blikke zu. Es war noch nicht die Zeit des Gebets. Der Morgen rieb sich noch zwischen ihren Fingern ein. Es musste etwas anderes sein. Sie würden es in Kürze erfahren. So kehrten sie zu ihrem klebrigen Dösen und ihren Zigaretten, ihrem Morgenkaffee und ihren ungekreuzten Wörtern zurück. Dann verkündete derselbe Lautsprecher den Hinschied eines Mannes. Alle spitzten die Ohren, um den Namen des Verblichenen zu verstehen. Ganz gelang ihnen das nicht, aber das machte nichts. Da waren nämlich zwei grosse Jungen, deren einer in einer Hand einen Eimer, in der anderen einen Pinsel trug, mit dem er etwas auf die Wände strich. Der andere folgte ihm und klebte Zettel an, die den Tod von Herrn Soundso anzeigten. »Wer ist gestorben, mein Junge?« »Herr Soundso.« »Herr Soundso gestorben? Das ist doch nicht möglich.« Die Händler scharten sich um die Mitteilung, drückten ihre Betroffenheit über den Tod von Herrn Soundso aus und rühmten den Verblichenen in den höchsten Tönen. Man wolle der Familie das Beileid aussprechen, beschloss man. Ja, einer spürte einen Stich im Herz, und seine Brust zog sich angesichts der geschlossenen Ladentür zusammen. Hatte er doch mit Herrn Soundso Kaffee trinken wollen. Und als er hinschaute und die Tür verschlossen fand, murmelte er: »Es gibt keine Macht und keine Kraft ausser allein bei Gott dem Allmächtigen.« Wer Kinder hat, stirbt nicht, liebe Brüder, auch wenn die Welt vergänglich ist. Was hat der Mann schon mitgenommen? Gestern noch war er unter uns, hat gescherzt und hübsche Geschichten erzählt. Ich hab ihn nach einem brasilianischen Fussballspieler gefragt, der sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere zurückgezogen hat. Es gibt keine Gottheit ausser Gott allein. Er ist der Lebendige und der Ewige. Kaum hatten die Leute ihre Worte beendet, als man Herrn Soundsos Sohn kommen sah. Sie liefen ihm entgegen, um ihn zu trösten und ihm ihr Beileid auszudrücken. Der junge Mann war weissgott geknickt. Die Tränen drängten ihm in die Augen. Doch er beherrschte sich. Langsam und mühsam presste er die Worte hervor. Erklärte den Händlern, sein Vater, Gott erbarme sich seiner Seele, habe nichts Bares zuhause hinterlassen. Jetzt werde er gewaschen, und sie verfügten über keinerlei Geld. Alles Geld sei auf dem Markt, in den Händen der Leute. Dann holte er das Heft seines Vaters hervor und begann, bei einem nach dem anderen die Schulden einzutreiben. Und tatsächlich: So sind Männer und Gold auf dem Prüfstein, wie man sagt. Die Händler borgten voneinander, um ihre Schulden zu begleichen. Mehr noch, einige legten als Gabe nicht Unbeträchtliches obendrauf. Man muss einander helfen, liebe Brüder! Und der junge Mann, Herrn Soundsos Sohn, sammelte auf dem Markt das Geld ein und wischte sich mit dem Saum des Taschentuchs seine Tränen ab. Die Leute sahen ihn – eine gebrochene Eiche, hilflos an ein Flussufer geworfen. Am Abend trauten dann die Männer ihren Augen nicht und suchten Zuflucht bei Gott vor dem vermaledeiten Teufel. Da kam doch wahrlich Herr Soundso auf den Markt! Nach einem freundlichen guten Abend öffnete er lächelnd seinen Laden. Die Münder blieben offen mit ungesagten Wörtern. Die Stifte, mit denen Kreuzworträtsel gelöst wurden, entfielen den unsicheren Händen, ohne dass man den Namen des ehemaligen arabischen Präsidenten gefunden hatte. »Was ist los mit euch? Ihr seid mit eurem Kreuzworträtsel noch nicht fertig. Ich hab es im Bus gemacht, auf dem Weg in die Hauptstadt. Ja, ich bin am Morgen hingefahren und komme direkt von dort zurück.« Die Wörter, diejenigen der Ladeninhaber, blieben an den Schaufenstern ihrer Geschäfte kleben, und niemand war imstande, Herrn Soundso zu sagen, sein lieber Sohn habe seine Schulden kassiert und auch noch um Darlehen gebeten. Er habe ihn lebendig begraben und sei weggegangen, niemand wisse, wohin.

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Colette Naîm Bahna

Eine Idee

»Pass auf!« sagte man ihm. »Der Gedankenklau ist dieser Tage sehr in Mode gekommen.« Nach kurzem Nachdenken besorgte er sich eine schwarze, würfelförmige Schachtel und steckte seinen Kopf hinein. Er verschloss sie gut, nur zwei kleine Löcher liessen Atemluft herein. Nachdem er so seine grossartigen Gedanken gesichert hatte, ging er täglich hinaus und spazierte ruhig, getrost und völlig entspannt durch die Stadt, ohne sich um die zahlreichen Diebe zu kümmern, die die Strassen bevölkerten. Doch einmal spürte er ein brennendes Verlangen, das Tageslicht zu sehen. Er nahm die Schachtel vom Kopf … und war sprachlos, als er all diese schwarzen würfelförmigen Schachteln sah, die ruhig, getrost und völlig entspannt durch die Stadt spazierten.

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Dörfliches Weltmärchen

Zsuzsanna Gahse: durch und durch. Müllheim/Thur in drei Kapiteln. Edition Korrespondenzen 2004

Vor einigen Jahren ist Zsuzsanna Gahse mit dem Kellnerroman an die Öffentlichkeit getreten. Jetzt überrascht sie mit dem Fensterroman. Im Kellnerroman bewegte sich die Hauptgestalt, der Kellner Ferdinand, durch diverse Schauplätze; im neuen Buch bleibt die Einstellung fest. Der Blick fällt durch ein Wohnungsfenster auf Dorfplatz und Hauptstrasse von Müllheim im Kanton Thurgau. Das Personal, das diese Zufallsbühne betritt, rekrutiert sich aus Anwohnern, Durchreisenden, Verirrten und Sagengestalten. Die Icherzählerin sitzt hinter dem Fenster und beschreibt, wie die Leute unten miteinander reden, wie sie ein Fest organisieren, wie jemand einen Schwächeanfall kriegt, wie zwei Autos zusammenstossen. Es gibt immer etwas zu sehen. Gibt es nichts zu sehen, schaltet die schreibende Beobachterin ihre Erinnerung zu. Fällt ihr nichts ein, blättert sie in der Zeitung oder in einem Sprachlexikon. Mag sie nicht lesen, fabuliert sie frei vor sich hin. Nicht selten tut sie all dies aufs Mal, das ergibt einen abenteuerlichen Mix aus Hier und Jetzt und Dort und Damals. Die Fenstersitzerin redet zu sich – zu uns – in besonderer Mission: Was erzählt ist, dies ihre Überzeugung, kann nicht sterben. Ihr unablässig fortschnurrender Wortstrom ist Sammelstelle für kleine Szenen, Anekdoten, Episoden, die vom Übersehenwerden bedroht sind. Oder vom Vergessen – was namentlich auch für die Sprache, die Wörter gilt. Denn wenn diese »längere Zeit nicht nach ihren Geschichten befragt werden«, sterben sie; »wenn sie nicht gefragt werden, machen sie den Mund nicht auf, (…) und dann ist es aus mit den Wörtern.« Es geht dieser Scheherezade der Bodenseegegend darum, einem scheinbar seelenlosen, vom Durchgangsverkehr gelähmten, in der Anonymität versinkenden Dorf erzählend eine Gegenwart zu schenken. Sie spinnt aus Zufällen, Begegnungen, Vergangenheitsreisen einen Lebensfaden, der den Fleck, an dem sie lebt, mit einer paneuropäischen Erzählkultur verbindet. Dem Vorschlag eines Bekannten, ihre Blicke statt über dieses unbekannte Nest über eine ordentliche Stadt schweifen zu lassen, die den Aufwand auch lohne – über Dresden und die Elbe – hält sie kurz und bündig entgegen, »dass ich die Elbe bei Dresden noch nie gesehen hätte, die Thur aber schon, und die Thur ist diese Geschichte selbst, da sei nichts zu tauschen «. Im zweiten Teil des Buches geht die erzählerische Reanimation in privaterem Rahmen weiter, auf dem Dachboden – dort, wo das Abgelebte sich staut. Zusammen mit Freunden will die Erzählerin Ordnung in all »die Porträtfragmente und Geschichtensplitter« bringen, die sich hier angehäuft haben. Bei dieser Gelegenheit beginnt sich das tote Material zu regen, und das bringt auch die Theaterfiguren, die Kostüme und Requisiten, die überall herumliegen, auf die Beine. Der Ansturm dessen, was plötzlich aufwirbelt und sich rührt, zwingt die Notierende zu einer raschen Schreibweise. Ein Strom aus knappen, aphoristisch verkürzten Texten begleitet den irren Zug der aus dem Schlaf Erwachten auf den Dorfplatz, der wechselweise zur Märchenbühne und zum Podium dörflicher Bedächtigkeit wird. Der dritte Teil ist nur eine Seite lang. Die Spukgestalten aus dem oberen Stübchen sind verschwunden, auf dem Platz vor dem Fenster werden die Linden gestutzt, mit Schere und Säge kehrt die gewohnte Ordnung zurück. Alles scheint wie zuvor, aber die heimlichen Geschichten, die hier hausen, sind dingfest gemacht, abrufbar, man schlägt eine Seite von Zsuzsanna Gahses poetischem Protokoll auf – und les voilà, munter gegenwärtig, als würden sie gerade passieren.

Rudolf Bussmann

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