Nummer 118 Zurück zum Archiv

Ludwig Hohl

Erscheinungsdatum: April 2004

Auszüge:
Inhaltsverzeichnis
Über dieses Heft
Jürg Laederach: Notiz zu den Notizen
Peter Bichsel: Der grosse Untalentierte
Ludwig Hohl: Das Engagement des Schriftstellers
Martin Zingg über "Ludwig Hohl: Aus der Tiefsee"
 
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Inhaltsverzeichnis

(Unterstrichene Texte können angewählt werden)

Über dieses Heft
Martin Zingg: Fisimatenten
Ludwig Hohl

Michel Mettler: Zwischen den Etagen
Emil Zopfi: Dem Gefängnis entrinnen
Anna Felder: Am „Drehpunkt des Bewusstseins“ bei Ludwig Hohl
Felix Philipp Ingold: Schuften und Schürfen
Dieter Zwicky: Erlösung oder Sehnsucht
Johannes Beringer: Vom Schreiben. Über Ludwig Hohl
Antonin Moeri: Hohl und die Geduld
Jürg Laederach: Notiz zu den Notizen
Claudia Storz: Hommage an Ludwig Hohl
Peter Friedli: Der Einzelgänger von Genf
Jörg Steiner: Spinnen am Abend, erhaltend und labend
Peter Bichsel: Der grosse Untalentierte
Zu drei Texten Ludwig Hohls
Ludwig Hohl: Das Engagement des Schriftstellers
Ludwig Hohl: Die soziale Wirkung des Schriftstellers
Ludwig Hohl: Die drei grossen Irrlehren

Besprechungen und Hinweise
Christoph Wegmann über Pedro Lenz
Werner Morlang über Elisabeth Aman
Elsbeth Pulver über Hugo Marti
Martin Zingg über Sylvia Steiner
Markus Bundi über Kurt Aebli
Rudolf Bussmann über Peter Weibel
Martin Zingg über Ludwig Hohl
Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren
Die Autorinnen und Autoren
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Über dieses Heft

Liebe Leserin, lieber Leser,

Ludwig Hohl (1904–1980) war schon zu seinen Lebzeiten eine Legende. Auch wer nicht zu seinen Lesern gehörte, hatte vom Sonderling schon gehört, der in einem Keller hause, seine Manuskripte an einer Wäscheleine aufhänge und mit der Pistole herumfuchtle. Jüngere Autoren unternahmen Wallfahrten zum genialischen Einsiedler. Ihre Versuche, Hohls literarische Bedeutung in Erinnerung zu rufen und die Legende zu entmy-stifizieren, machten den Autor engültig zur literarischen Figur, in der sich Dichtung und Wahrheit unauflöslich verwoben. Die Texte zweier Hohl-Reisender aus den sechziger Jahren sind in dieser Nummer abgedruckt: Sie stammen von Peter Bichsel und Jörg Steiner.
Wir wollten in Erfahrung bringen, wie Schreibende heute die Notizen, Hohls Hauptwerk, lesen oder wiederlesen. Lässt sich in irgendeiner Weise an Hohls Denken, an sein Schreiben anknüpfen – was davon kann heute noch berühren?
Die Frage legten wir einer Reihe von Autorinnen und Autoren vor. Interessant, dass mancher Beitrag wiederum Hohls Person thematisiert – nicht nur der Bericht Peter Friedlis, des Fotografen und Arztes, der an die Begegnung mit seinem Freund erinnert. An Hohls Schreiben anknüpfen? Dazu war der Autor ein allzu eigenwilliger Querdenker. »Die soziale Wirkung des Schriftstellers«, sagt er hellsichtig in einem der Texte, mit denen das Heft schliesst, »ist im allgemeinen gleich Null«. Indes zählt neben der sozialen Wirkung vor allem die literarische. Und die ist in seinem Fall bemerkenswert – nach wie vor sind Hohls Notizen hochgradige Anreger für Literatinnen und Leser.
Wir danken allen, die bei dieser Nummer mitgemacht haben, namentlich auch der Künstlerin Hanny Fries, der langjährigen Freundin Ludwig Hohls, für ihre Traumbilder und »Nachtfenster«, angeregt durch die Lektüre der Notizen.

Rudolf Bussmann und Martin Zingg

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Jürg Laederach

Notiz zu den Notizen

Ludwig Hohl verfügt über ein franc parler, das sich dem Anlass seines Schreibens nur kurz annähert, sich nicht länger als eine Berichtigung oder eine Kritik in dessen Univers aufhält, dann sogleich wieder – erregt, ungerührt – zu sich selber zurückkehrt.
Es ist, als befände sich das Magnetische, Interesse-Erweckende, der zu der jeweiligen Notiz führende Anlass in einer Sphäre, welche der Autor aus einer Grundsatzentscheidung heraus nur streifen möchte. Rasch n’Blick aus’m Monadenfenster, dann gleich back to the roots of the own self.
Mag das ein erkenntnistheoretischer Nachteil sein, so macht es doch den Augenblick deutlich, worin das denkende Subjekt auf seinen Arbeits-Anlass stösst, verdeutlicht die Zeitspanne, über welche das selbe Subjekt in den Fängen des magnetisch-fremden Sujets sich quält, erklärt schliesslich die kräftige Wortwahl, womit es seine Qual quittiert.
Hohl, als Denker und Philosoph gesehen, ist womöglich ein Autobiograph, der entweder kein anderes Leben zu zeigen hat als ein Denken oder seine Lebensdetails kurz vor der Preisgabe in Fragen des intellektuellen Überlebens verwandelt und/oder stilisiert.
Jede Notiz, so die These, ist ein Ausbruchsversuch aus der Autobiographie in die Splitter einer Fremdbiographie, an der zwar einiges zurechtgerückt wird, die aber unter dem Dauervorwurf steht, nicht die von Hohl selber zu sein.
Neben Lektüre als Anlass scheint immer auch Triviales, Allzumenschliches Hohl anzutreiben, dies aber ist kaschiert, sodass es nur vermutet werden kann; allerdings ist kaum ein anderer Schluss möglich bei Betrachtung der oft einigermassen überraschenden Themenwahl; kaum kehrt eine Notiz nach einem klassischen sally-out, einer kurzen Beutefahrt, wieder zu Hohl zurück, schlägt die nächste in ganz andere Richtung zu; dies unermüdlich, impulsiv, aggressiv, aber auch, als fühlte sich der Verfasser von seinem Gegenstand angegriffen und verteidigte sich mit dem Angriff auf einen neuen. Verteidigung und Angriff lassen sich in der Tat kaum unterscheiden.
Hohl erscheint, kurz gesagt, als extrem gross-klein, ohne mittlere Dimension, die auch unter dem Namen Mässigung oder Mittelmass läuft.
Die Transposition sämtlicher Alltagsvorgänge in solche des Denkens, Schreibens, der Kritik usw. ist einerseits arretiert-solide, will sagen, der Blick schnellt nicht plötzlich zurück auf das Allzupersönliche, Allzualltägliche, doch wirkt der Vorgang irgendwie durchsichtig; der Leser steht gleichsam unter Zwang, den höher strebenden Gedankenflügen ihren konkreten Anlass nachzutragen: Hohls Exkurse verweisen, ohne ihn zu nennen, ohne dass er erratbar würde, auf ihren point de départ, nämlich den Tag, wie er ist.
Das Tagebuch der Sinnsätze behält wesentliche Eigenschaften eines Stundenbuchs, ein Teil der Hohlschen Präzision verdankt sich vermutlich der Empfindlichkeit für den jeweiligen Gesamtzustand des Schreibenden bei einem Notizenanfang. Der Gesamtzustand wird zwar transzendiert, west aber in der Überschreitung unverändert notleidend weiter.
Hohl, der oft Didaktische, fast gewaltsam zu seiner Ansicht und dem Steilhang seiner Ideale Bekehrende, ruft vielleicht eher schmerzliche Empathie hervor, nicht geradezu Mitleid, aber doch ein persönliches Mitgefühl für seine Aporie – keiner der von ihm gesehenen Schreib- und Existenzfehler ist jemals behebbar – zweitens für seine Befriedigungslosigkeit – keiner seiner geäusserten Ideal-Wünsche geht jemals in Erfüllung – drittens für seine geringe Reichweite – die getadelte Person ist weder zugegen, noch würde sie, wäre sie es, auf den Hohlschen Tadel reagieren; was, wie überall, der Natur dieses Tadels anzusehen ist.
Die Interventions-Lust ist gross; das dazu erforderliche Selbstwertgefühl klein. In der Gesamt-Aesthetik wirkt sich das dahingehend aus, dass Hohl immer den Eindruck erweckt, er verbeisse sich in den ihm gerade vorliegenden Einzelfall und gehe ganz in dessen zu verfertigenden Notiz auf. Die Möglichkeit selbst einer bescheidenen Serialisierung wird nie ergriffen.
Serialisierung ist aber real vorhanden, denn Notiz folgt auf Notiz folgt auf Notiz. Die Serialisierung wird aber nie als Konzept verwendet, z.B. mit einer lockeren Überschrift: 15 Bemerkungen zum Schweigen. Konventioneller argumentiert: Hohl hat zweifellos Stil, aber er stellt Stil nie, quasi separat und für sich genommen, als eine Errungenschaft vor. Im Gebiet der Notiz, des Notats rammt er keine Pfähle ein, welche es als seinen Claim und seine Goldgrube ausweisen.
Der Notator Canetti, im Vergleich, geht conquistadorischer vor, man liest dort zwar auch Notizen, aber in allen ist das Markenzeichen Canetti eingebrannt. Er baut sich auf, dort wo Hohl sich eher wegduckt. Darum: Canetti, der in seiner Selbsteinschätzung ohnehin unerschüttert präsent ist, greift zum ruhigen, gelassenen, gemessenen Tonfall, Hohl, der in eigener Auffassung ständig vor sich selber verschwindet, (Verschwinden als Endstadium der Selbstverkleinerung), benötigt das Raunzen, eine Gebrüll nicht scheuende Betonungs-Attitüde, welche bei Lektüre letztlich zum nicht weiter begründbaren Surplus – Mehrwert oder Ballast – wird.
Nicht der Grundton, aber der Grundgestus Hohls ist jener der vorweggenommenen Ergebnislosigkeit jeder Kulturbemühung; es ist, als intensiviere er seine Verbesserungsanstrengungen an anderen aus schlechtem Gewissen über diese Einsicht; die tadelnde Erhebung des Tons, sein schriftliches Brüllklagen meinen vermutlich nicht die Fehlerhaftigkeit des Inkriminierten, sondern richten sich an die Fehlerhaftigkeit als Existenzbedingung; Hohls Heroismus streicht, als wär Leben Schulaufsatz, jeden Schnitzer am Rand an und leidet darunter, dass ihm nach hunderten Seiten immer noch einige entgehen.
Kleine und deswegen übersehene Fehler will Hohl, als gründlicher und oft weniger philosophischer denn pragmatischer Beobachter, an jeder Einzelheit nachweisen.
Einzelheiten aber findet man im Alltag, oder: es suggeriert eine Serie fein aus ihrem Zusammenhang gelöster Einzelphänomene so etwas wie tägliches Erleben; eben dieser Perlenschnur des Unzumutbaren sowie des – Realität eben! – zufällig, wie hingeworfenen und manchmal surreal Zusammengefügten fährt Hohls Kommentarprozess nach. Man darf vermuten, dass die Wildheit in Hohls Kommentargestus auch seine Themenwahl leitet: man weiss oft nicht, warum eine Notiz auf die vorangegangene folgt, aber die wilde Suche nach dem neuen Thema teilt sich sogleich mit.
Hohls Unternehmen ›Notizen‹ ist grossdimensioniert, ein Lebensbegleiter. Eigentümlich und auffällig dabei die sprachliche Fassung: ein alles zusammenklammernder, etwa auf Ausguck-Niveau angehobener, das Disparate der Beobachtungen vereinheitlichender Stil will nicht zustande kommen, wird offenbar weder gesucht noch auch als notwendig empfunden. Wer die Notizen liest, dessen Aufmerksamkeit wird wesentlich stärker auf Hohl gelenkt als auf Sprache. Die Bemerkungen, zum Beispiel, über das Schweigen sind reichlich, an Angebot fehlt es nicht. Wittgenstein, beleidigend knapp, bildete einen weltberühmten, klassischen, für alle Zeiten stehenden Satz. Worüber man nicht … peng … der Rest ist eben das, worüber man nicht ...
Es ist – paradoxe Feststellung –, als erkenne der Autor seine wichtigste Gattung nicht als Gattung an, als müsse das Wesen der Notiz, das Zettelige, Kritzelnde, Hingeworfene, aleatorisch im bloc notes Festgehaltene eben auch in der Zusammenstellung seine ästhetische Erscheinungsform behalten.
Nicht zu einem eigenwilligen, durch eigenen Stil getragenen Gesamtdiskurs soll sich die Sammlung fügen, sondern es soll möglichst, auch nach Hunderten von Seiten, der Notatcharakter erhalten bleiben: die Einzeläusserungen verweigern den Zusammenschluss zu einer übergeordneten Totalen, und es ist davon auszugehen, dass das ästhetisch so geplant ist, auch wenn es manchmal wie Ungenügen daherkommt.
Hohl scheint sich durch permanentes Aufbrechen längerer Text-Fortsetzungs-Linien jener Pose zu verweigern, in deren Licht (oder Schutz) er sich begab: jener des kreisum und der Reihenfolge nach alles erhellenden philosophischen Leuchtturms, des sich die letzten noch fehlenden Bildungsreste aneignenden Privat-Omniszienten.
Da gerade die Omniszienten, oft Glaubensfürsten, zu den prominenten Objekten seiner Kritik gehören, ist es nur natürlich, dass er sein Werk anders formiert, als ers bei seinen Vorgängern und Gescholtenen liest; dies könnte mit ein Grund sein für die Auffälligkeit, dass Hohls Blick nie waagrecht auf das Objekt seiner Debatte fällt, sondern (allzu?) oft schräg von unten herauf, aus der im vornherein festgelegten Position des Underdogs heraus, in welcher er offenbar am besten arbeitet – und welche logischerweise das Knurren aus der Hütte erlaubt.
Möglicherweise vergibt er sich dadurch etwas, denn seine Kommentare werden ihm nicht automatisch als Überlegenheit über den Kommentierten angerechnet, wie das bei einer entsprechenden strategischen Ausrichtung geschähe.
Er ist das Gegenteil von herablassend, sorgt im Gegenteil dafür, dass sein Gegenstand – wie der Berg auf den Steiger – immer ein wenig auf ihn hinunterblicken darf; sicher sorgt er da für seinen weiteren Antrieb; es scheint ihn in die nächste Notiz zu treiben, konserviert der Tonlage aber ihre Bitterkeit, Enttäuschung, Bissigkeit, seltener, elegische Resignation.
Im Augenblick wo er vor sich hin murmelnd den letzten vollen Bogen von seiner berüchtigten Wäscheleine nahm – die gespannte Schnur als extravagante Literaturhelferin; erst das fertig Geschriebene wird an den Roten Faden gehängt –, hatte er, zur Rettung seines durch Fremdlektüre bedrohten Ichs, sein Hauptwerk angezettelt. Es war so aufhörens-unfähig wie das von ihm kritisch Kommentierte. Indem er mit Vorliebe die Welt der Weltverbesserer verbesserte, schuf er eine abermals bessere Welt, deren Güte er nun endgültig nicht mehr trauen konnte.


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Peter Bichsel

Der grosse Untalentierte

Ich war einmal in Den Haag und es gefiel mir da, und ich machte von dort einen Ausflug nach Delft und fand es schrecklich.
Ludwig Hohl ist umgekehrter Meinung. Er findet Delft schön und hat etwas gegen Den Haag.
Es wäre nun einfach, zu sagen, ich mag Ludwig Hohl nicht, weil er anderer Meinung ist, denn wer bei Hohl Meinungen sucht, wird nie etwas begreifen.
Ludwig Hohls Sätze sind nicht Meinungen, es sind Feststellungen. Sie sind nur begreifbar, wenn man sie anerkennt als die eigene oder die andere Front.
Der Streit darum, ob Den Haag oder Delft besser ist, mag lächerlich erscheinen, er ist es nicht. Gut, es ist nur ein Übungsstreit, ein geistiges Manöver sozusagen, aber Hohl hat ein Anrecht darauf, dass ich seinem guten Satz über Delft einen guten Satz über Den Haag entgegensetze.
Das kann ich nicht, weil Den Haag und Delft bei Hohl nichts anderes ist als Sprache (sie werden auch nicht beim Namen genannt, ich vermute sie nur), nichts anderes als die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, eine Folge des Apfels vom Baum der Erkenntnis.
Denn Hohl ist ein Moralist, und er beschämt mich. Sprache ist bei ihm nicht ein Mittel der Versöhnung. Er gehört nicht zu jenen, die sich irgend etwas vom Leibe schreiben, er belastet sich selbst mit seinen Sätzen; denn Ludwig Hohl ist nicht ein Talent; er ist der Untalentierteste unter den Grossen.
Er schreibt, weil er nicht kann, und nichts ist den Lesern so unangenehm wie der Untalentierte. Sie hören nicht gern von sich selbst und möchten vom Schriftsteller nichts anderes als den Beweis, dass es Göttliche gibt, dass es sich auf der Welt erfolgreich leben lässt.
Sie wollen vom Autor die Demonstration des Bewältigens und Versöhnens.
Ludwig Hohl ist erfolglos, nicht nur – was eine Nebensache ist – vor den Lesern, sondern vor sich selbst. Dass die Gesellschaft Hohl ablehnt, ist verständlich. Denn sie drängt zum Erfolg, der Erfolglose ist ihr ein bitteres Ärgernis.
Und mag es noch so viele Autoren geben, die düster waren und doch zum mindesten nach ihrem Tod Erfolg hatten, Ludwig Hohl unterscheidet sich von ihnen. Ihm wird auch nach dem Tod nicht passieren, was Kafka oder Joyce oder Musil passiert ist. Wer ihm eine Renaissance prophezeit, verharmlost ihn. Seine Sätze gefallen mir heute nicht besser als vor zehn Jahren, und sie werden mir – das weiss ich – in zehn Jahren noch mehr Mühe machen.
Es wird ihm erspart bleiben, dass gebildete Damen von Situationen sagen: »Das ist wie Hohl«, in der Art, wie man sagt: »Das ist wie Kafka.«
Und es wird ihm erspart bleiben, dass man sein Werk »kennt«, ohne es gelesen zu haben.
An ihm gemessen ist Kafka Unterhaltungsliteratur, das heisst, Kafka versteht es, für kurze Zeit dem Leser ein gewisses Hochgefühl zu vermitteln, denn es tröstet, dass Kafka das Leben so sieht wie wir und dass er Bögen sieht und Zusammenhänge.
Was bei Kafka zu einem Riesengemälde der verwalteten Welt wird, bleibt bei Hohl ein Streit zwischen Den Haag und Delft, ein absolut undämonischer Streit, ein kleinlicher, sturer und deshalb menschlicher.
Und was bei Kafka zu einer molekülähnlichen, kristallähnlichen Konstruktion wird, wird bei Hohl zur Verstrickung.
Das Detail bringt ihn um.
Der Moralist Hohl zeigt sich immer wieder in seiner zwanghaften Auseinandersetzung mit dem Detail. Ihm gelingt kein Weltbild, sein Weltbild misslingt so, wie ein Leben misslingt, wie jedes Leben misslingt.
Die Notizen sind vor langer Zeit entstanden, zwei dicke Bände mit dem Titel Von der unvoreiligen Versöhnung, sie sind bis heute nicht selbstverständlich geworden, sie bleiben unversöhnt und mühsam, weil unvoreilige Versöhnung nicht Versöhnung mit dem äussern Umstand, sondern Versöhnung nach innen meint.
Die Notizen sind eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Sie tragen das Prinzip, das Widerstände auslöst, in sich – deshalb wird die Zeit an ihnen nichts ändern, und deshalb ist bei ihnen kein Trost für die Zeit zu erwarten.
Sie werden deshalb das bleiben, was sie sind; sie werden in Jahrzehnten noch überraschen und ärgern, und sie brauchen wohl nie einen zeitgeschichtlichen Kommentar; nicht etwa weil sie unaktuell wären, sondern weil ihre Aktualität echt ist.
Ludwig Hohl ist in den letzten Jahren in die fatale Situation des Geheimtips geraten. Die Leute glauben, dass seine Grösse in seiner Verkanntheit liege. Sie halten den Umstand, dass Hohl weniger Erfolg hatte als andere, für einen perfiden Zufall und den Zufall für einen Beweis seiner Grösse, und das Vaterland hat sich wieder einmal zu schämen.
Allerdings, die Leute, die Hohl als Geheimtip verkaufen wollen, tun ihm einen schlechten Dienst. Meist bieten sie Anekdoten über Alkohol und Keller, über Boheme und Genie herum und machen aus einem Schweizer etwas Exotisches, aus einem mühsam Arbeitenden ein junges originelles Talent. Wenn ich irgendwo den Namen Hohl erwähne, kommt unweigerlich die Frage: »Ist das der, der im Keller lebt.« Ich habe mir angewöhnt, über die Frage erstaunt zu sein und zu sagen: »Davon weiss ich nichts, und ich müsste es doch wissen, da ich ihn kenne.«
Hohl ist nicht einer, der im Keller lebt, sondern einer, der schreibt. Hohl ist nicht einer, über den es viel zu sagen gibt, sondern einer, der etwas zu sagen hat. Hohl als Legende zu verkaufen ist gemein. Man drängt ihn damit unter jene Autoren des 19. Jahrhunderts, deren Biographie mehr Gewicht hat als ihr Werk. Man liefert damit der Gesellschaft ein Argument mehr, ihn nicht zu lesen, denn Hohl-Anekdoten reichen aus, das literarische Gespräch im Salon einen Abend lang zu füttern.
Geheimtip-Jäger machen aus der Literatur ein Wettgeschäft, sie sind daran interessiert, dass der Aussenseiter ein Aussenseiter bleibt, und dass sie zu den wenigen gehören, die den Tip kennen.
Ich verehre Hohl und mag seine Verehrer nicht. Ich beanspruche ihn für mich selbst. Ich käme mir als lächerlicher Zwerg vor, wenn ich ihn verteidigen und propagandieren müsste.


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Ludwig Hohl

Das Engagement des Schriftstellers
(Antwort auf eine Umfrage)

Darüber, dass der Schriftsteller sozial engagiert ist, besteht für mich seit langem kein Zweifel.
Allein dass er in einer Sprache sich äussert, ist ein Beweis dafür. Denn ohne die andern – gleichviel in welcher Art, in welchem Grade die andern da seien, ob sie nur gedacht seien z.B. – würde die Sprache nicht existieren. Wenn ein Mensch ganz allein wäre, freilich eine undenkbare Vorstellung und ein unmöglich durchzuführender Test –, würde er allmählich, über kurz oder lang, aufhören zu schreiben, aufhören zu sprechen, in sich selbst zu sprechen, »zu sich selbst« zu sprechen (das »zu sich selbst« ist nur eine Fiktion), zu denken. Er würde schliesslich – wahrscheinlich über Stufen wie Wahnsinn und Verblödung – aufhören, zu sein. Denn der soziale Trieb ist, neben dem Ernährungstrieb, der mächtigste Trieb des Menschen. (Und der sexuelle Trieb ist nur eine Unterabteilung davon, wenngleich bei einigen an Bedeutung überwiegend, in andern Fällen mässiger, selten einmal fast nicht vorhanden wie bei Kant: was aber nicht heisst, dass bei Kant der soziale Trieb nicht überaus mächtig war.
Also sind, aus einer gewissen Distanz gesehen, alle Werke, möge es sich um Drama oder Epik, um Gedichte oder Philosophie (etc.) handeln, nichts als Briefe an einen Freund (einen fernen vielleicht wohl, einen nur vorgestellten; dennoch Briefe an einen Freund oder Freunde, – an die Menschen).
(Und das Gerede vom Elfenbeinturm wäre eine der grössten Sinnlosigkeiten, die je geredet wurden, wenn es das Gesamte des Künstlers und nicht nur eine Einzelheit beträfe.)
Nun fragt man nach der Engagiertheit des Schriftstellers in besonderem Sinne:
Dass alle Schriftsteller heute unter den politisch mehr oder weniger links Gerichteten zu finden sind, steht für mich ausser Frage. Dass auf der entgegengesetzten Seite, heute, noch Schriftsteller von einiger Bedeutung existieren, – das kann ich mir nicht vorstellen.
– »Was aber wäre das für ein Sozialismus, wenn man in den andern nur die andern, nicht sich selber sieht?«
Wenn also einer einer Partei, einer Doktrin in dem Masse verschrieben ist, so mit Haut und Haar, dass er unter keinen Umständen von der Linie um ein Tüttelchen abweicht, so ist er nicht mehr Schriftsteller zu nennen, sondern: Zuträger.


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Martin Zingg

Aus der Pariser Tiefsee

Ludwig Hohl: Aus der Tiefsee. Paris 1926. Herausgegeben von Ulrich Stadler. Suhrkamp 2004

Er war kaum zwanzig Jahre alt, da zog er mit einer Schulfreundin nach Paris, entschlossen, ein Schriftsteller zu werden. Bis 1930 blieb Ludwig Hohl dann auch in Frankreich, meistens in der Hauptstadt, gelegentlich in Marseille und in Hochsavoyen – und wenn er nicht auf Berge kletterte, schrieb er. Vor allem arbeitete er an den „Epischen Schriften“, die er als Grundlage für spätere literarische und essayistische Arbeiten verwenden wollte. Dreissig Notizhefte füllte er mit Aufzeichnungen. Beobachtungen, Reflexionen, Beschreibungen, alles sollte irgendwann einmal Material werden, und dabei dachte Hohl auch an einen Roman, den er schreiben wollte. Er kam nicht zustande, aber natürlich hätten wir ihn gerne gelesen. Mitternachtsgesellschaft sollte er heissen: ein Roman über das nächtliche Treiben der Pariser Bohème in den zwanziger Jahren.
An Anschauungsmaterial kann es Hohl nicht gefehlt haben, denn die Cafés, die er seinerzeit aufsuchte, waren nicht selten auch die Treffpunkte von damals schon bekannten Künstlern und Schriftstellern. Aus den »Epischen Schriften«, die bislang unpubliziert sind, hat Ulrich Stadler nun jene Passagen zusammengestellt, die aus dem Jahr 1926 stammen und sich auf das gescheiterte Romanprojekt beziehen. Die möglichen Umrisse des Romans lassen sich heute nicht mehr rekonstruieren, nachweisbar ist jedoch, dass Hohl während Jahren immer wieder auf sein Vorhaben zurückgekommen ist. Als er den Text endgültig aufgibt, bewahrt er die Materialien immerhin auf, so wie er zeitlebens alles sorgfältig archiviert hat. Und in den Notizen, denen er sich schon bald danach zuwendet, wird er der Romanform eine dezidierte Absage erteilen.
Die vorliegende Leseausgabe gewährt spannende Einblicke in die Arbeitsweise Hohls, in sein rastloses Sammeln und Verarbeiten von Eindrücken, die er nicht selten auf langen Märschen durch Paris und in die nächste Umgebung gewonnen hat. Es ist das Paris der zwanziger Jahre, gesehen von einem angehenden Schriftsteller, der sich bewusst am Rande der Gesellschaft aufhält und den Aktualitäten des kulturellen Lebens und allen Berühmtheiten geflissentlich aus dem Weg geht, um unverwandt auf das inoffizielle Paris zu blicken.

Martin Zingg


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