Wir wissen nichts voneinander.
Wir kennen einander nicht. Aber uns gibt es. Und wir werden
täglich mehr. Wir sind die fleissigsten Rezensentinnen
und Rezensenten der Welt. Nichts ist vor uns sicher. Filme,
Bücher, CDs – wir stöbern sie auf, nehmen
sie in das Computervisier, und paff! Anschliessend ziehen
wir ihnen den Skalp ab. Den hängen wir nicht an den Gürtel,
sondern ins Internet. Die Zahl der von uns erlegten Werke
kann sich sehen lassen: 50 allein von the red duke, 106 von
stupidleg, 154 von naminanu. Wir jagen nur Grosswild. Mindere
Gattungen wie Dramatik oder Essays, gar Lyrik, lassen wir
beiseite. Und überhaupt alles, was sich tarnt und versteckt.
Wir stehen am Wildwechsel des Zeitgeists, dort wo abends die
Bestseller und Actionfilme vorbeiziehen.
Die Bleichgesichter aus den Feuilletons haben nichts für
uns übrig, sie strafen unsere Skalpsammlung mit Nichtbeachtung.
Doch sie nehmen uns sehr wohl wahr. Kaum gräbt einer
oder eine von uns das Kriegsbeil aus und geht ungeschützt
auf den Gegner los, stehen sie da und notieren, und zitieren
uns in ihrem nächsten Artikel. Da sind wir auf einmal
nicht die Indianer, sondern Volkes Stimme, die ungeschminkt
sagt, was sie selber in Rücksicht auf Autor und Verlag
und den guten Geschmack nicht schreiben mögen. Jonathan
Franzens „literarischer Schreibstil“ nervt mit
der Dauer des Buches immer mehr oder – über
Benjamin Lebert – Die hirnlosen Ejakulationen dieses
arroganten Schnösels interessieren mich absolut nicht.
Unsere Sätze sind das Salz, mit dem sie ihre faden Abhandlungen
würzen. Ansonsten sehen wir sie mit Schmetterlingsnetzen
in den Wiesen herumkriechen, um Jagd auf Raritäten zu
machen. Die zerlegen sie umständlich, suchen in den Innereien
nach irgendwelchen ästhetischen Prinzipien, Selbstreferenzen,
sozialpsychologischen Implikationen, nach Zeitkritik! und
weiss Gott was. Sie sind zu wählerisch, deshalb kommen
sie nirgends hin. Wir legen an, zielen, paff! „Das
Tagebuch der Nancy Chan“ ist weder lustig, noch lustvoll.
(...) Ein einziger grosser Krampf. – Es macht einfach
keinen Spass. Diese dreihundertdreissig Seiten sind eine Qual.
Alles ist kompliziert, die Handlung verschachtelt, das Denken
des Protagonisten quer und selbstgefällig. Paff
paff. Diesmal traf es „Sutters Glück“ von
Adolf Muschg. Skalp abziehen und in die Homepage hängen.
Oder besser an den langen Galgen bei www.amazon.de. Dort sind
schon respektable 2,5 Millionen Besprechungen auf der Reihe.
Immer spazieren da Leute vorbei und sehen sich die Trophäen
an. Finden Sie diese Rezension hilfreich?, fragt
Amazon. 13 von 18 Kunden finden sie hilfreich. Eine genügend
hohe Anzahl Kundentreffer bringt uns dorthin, wovon wir alle
träumen: in die Chart der 50 Top-Rezensenten!
Die Bleichgesichter beschimpfen uns als Kritikerluder,
die sich den Online-Händlern andienten und sich zu Handlangern
der Verlage machten. Auf unsere Freiheit sind wir Netzensenten
stolz. Wir stehen nicht wie unsere Verächter im Sold
eines Zeitungsverlags oder eines Rundfunks. Niemand darf schwärmen
wie wir! Zum Beispiel über den Roman „Der Rote
Ritter“. Muschg erzählt hier aus „Leib
und Seele“, fesselt uns an Details und befreit uns durch
jedes der 100 Kapitel. Ich habe die über 1000 Seiten
etliche Male gelesen und einiges daraus auch immer wieder
laut. Wer von euch Bleichgesichtern darf sich rühmen,
den Wälzer auch nur annähernd gelesen zu haben.
Und mehrmals! Apropos Muschg. Da ist doch ein neues Buch draussen.
Liebesgeschichten Schreiben Sie die erste Online-Rezension
zu diesem Produkt, und gewinnen Sie mit etwas Glück einen
Amazon.de Einkaufsgutschein über 50 EUR. Klar, dass
ich der erste sein will. 40 Zeilen, mehr braucht ein richtiger
Prärieläufer nicht. Ich habe sie schon im Kopf.
An die Arbeit. Paff!
Rudolf Bussmann
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