Nummer 117 Zurück zum Archiv

Performative Texte

Erscheinungsdatum: Oktober 2003

Auszüge:
Inhaltsverzeichnis
Über dieses Heft
Rudolf Bussmann: Fisimatenten
Rafael Urweider: Ich stehe sittsam
Jurczok 1001: Streubombe
Melinda Nadj Abondji: Exklusiv: Pius Jüngst
 
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Inhaltsverzeichnis

(Unterstrichene Texte können angewählt werden)

Über dieses Heft
Rudolf Bussmann: Fisimatenten
Performative Texte

Gespräch mit Melinda Nadj Abondji
Rafael Urweider: Ich stehe sittsam
EKR
Zainab
Christian Uetz
Jurczok 1001: Streubombe
Melinda Nadj Abondji: Exklusiv: Pius Jüngst

Ein Lächeln des Glücks
Brigitte Kronauer: Unerklärliche Wechselwirkung
Alain Claude Sulzer: Mass nehmen
Daniel Zahno: Der Hund. Variationen
Eine Nacht im Leben von Dieter Bachmann
Besprechungen und Hinweise
Rudolf Bussmann über Christoph Geiser
Christoph Wegmann über Christina Viragh
Werner Morlang über Nicolas Bouvier
Elsbeth Pulver über Ernst Halter
Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren
Die Autorinnen und Autoren
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Über dieses Heft

Liebe Leserin, lieber Leser,

"Performative Texte" haben Sie als Titel dieser Nummer gelesen, und dabei sind Sie möglicherweise ein wenig stutzig geworden. Der Ausdruck ist nicht übermässig bekannt, das Gemeinte hingegen schon. Performative Texte erinnern nämlich an eine alte Form der Literaturpräsentation: an den mündlichen Vortrag. Wichtig ist dabei die Anwesenheit eines Publikums, wichtig ist auch, dass die Texte auf den öffentlichen Vortrag hin gestaltet werden.
Die hier präsentierten Texte sind denn auch nicht in erster Linie für den Druck gedacht, aber sie lohnen auch eine stille, gleichsam einsame Lektüre. Die Zürcher Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji hat für uns eine Auswahl getroffen, aus der die formale und thematische Vielfalt performativer Texte deutlich wird. Über einige Besonderheiten der Texte gibt sie in einem Gespräch Auskunft.
Mit einem Essay von Brigitte Kronauer und erzählerischen Texten von Alain Claude Sulzer und Daniel Zahno geht es weiter, und von einer heissen, schlaflosen Nacht berichtet Dieter Bachmann.
Daneben, wie stets: Rezensionen von neuen Büchern.
Wir danken Melinda Nadj Abonji für ihre Mitarbeit, und allen Autorinnen und Autoren. Ihnen wünschen wir einen milden Leseherbst!

Rudolf Bussmann und Martin Zingg

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Rudolf Bussmann

Fisimatenten

Wir wissen nichts voneinander. Wir kennen einander nicht. Aber uns gibt es. Und wir werden täglich mehr. Wir sind die fleissigsten Rezensentinnen und Rezensenten der Welt. Nichts ist vor uns sicher. Filme, Bücher, CDs – wir stöbern sie auf, nehmen sie in das Computervisier, und paff! Anschliessend ziehen wir ihnen den Skalp ab. Den hängen wir nicht an den Gürtel, sondern ins Internet. Die Zahl der von uns erlegten Werke kann sich sehen lassen: 50 allein von the red duke, 106 von stupidleg, 154 von naminanu. Wir jagen nur Grosswild. Mindere Gattungen wie Dramatik oder Essays, gar Lyrik, lassen wir beiseite. Und überhaupt alles, was sich tarnt und versteckt. Wir stehen am Wildwechsel des Zeitgeists, dort wo abends die Bestseller und Actionfilme vorbeiziehen.
Die Bleichgesichter aus den Feuilletons haben nichts für uns übrig, sie strafen unsere Skalpsammlung mit Nichtbeachtung. Doch sie nehmen uns sehr wohl wahr. Kaum gräbt einer oder eine von uns das Kriegsbeil aus und geht ungeschützt auf den Gegner los, stehen sie da und notieren, und zitieren uns in ihrem nächsten Artikel. Da sind wir auf einmal nicht die Indianer, sondern Volkes Stimme, die ungeschminkt sagt, was sie selber in Rücksicht auf Autor und Verlag und den guten Geschmack nicht schreiben mögen. Jonathan Franzens „literarischer Schreibstil“ nervt mit der Dauer des Buches immer mehr oder – über Benjamin Lebert – Die hirnlosen Ejakulationen dieses arroganten Schnösels interessieren mich absolut nicht. Unsere Sätze sind das Salz, mit dem sie ihre faden Abhandlungen würzen. Ansonsten sehen wir sie mit Schmetterlingsnetzen in den Wiesen herumkriechen, um Jagd auf Raritäten zu machen. Die zerlegen sie umständlich, suchen in den Innereien nach irgendwelchen ästhetischen Prinzipien, Selbstreferenzen, sozialpsychologischen Implikationen, nach Zeitkritik! und weiss Gott was. Sie sind zu wählerisch, deshalb kommen sie nirgends hin. Wir legen an, zielen, paff! „Das Tagebuch der Nancy Chan“ ist weder lustig, noch lustvoll. (...) Ein einziger grosser Krampf. – Es macht einfach keinen Spass. Diese dreihundertdreissig Seiten sind eine Qual. Alles ist kompliziert, die Handlung verschachtelt, das Denken des Protagonisten quer und selbstgefällig. Paff paff. Diesmal traf es „Sutters Glück“ von Adolf Muschg. Skalp abziehen und in die Homepage hängen. Oder besser an den langen Galgen bei www.amazon.de. Dort sind schon respektable 2,5 Millionen Besprechungen auf der Reihe. Immer spazieren da Leute vorbei und sehen sich die Trophäen an. Finden Sie diese Rezension hilfreich?, fragt Amazon. 13 von 18 Kunden finden sie hilfreich. Eine genügend hohe Anzahl Kundentreffer bringt uns dorthin, wovon wir alle träumen: in die Chart der 50 Top-Rezensenten!
Die Bleichgesichter beschimpfen uns als Kritikerluder, die sich den Online-Händlern andienten und sich zu Handlangern der Verlage machten. Auf unsere Freiheit sind wir Netzensenten stolz. Wir stehen nicht wie unsere Verächter im Sold eines Zeitungsverlags oder eines Rundfunks. Niemand darf schwärmen wie wir! Zum Beispiel über den Roman „Der Rote Ritter“. Muschg erzählt hier aus „Leib und Seele“, fesselt uns an Details und befreit uns durch jedes der 100 Kapitel. Ich habe die über 1000 Seiten etliche Male gelesen und einiges daraus auch immer wieder laut. Wer von euch Bleichgesichtern darf sich rühmen, den Wälzer auch nur annähernd gelesen zu haben. Und mehrmals! Apropos Muschg. Da ist doch ein neues Buch draussen. Liebesgeschichten Schreiben Sie die erste Online-Rezension zu diesem Produkt, und gewinnen Sie mit etwas Glück einen Amazon.de Einkaufsgutschein über 50 EUR. Klar, dass ich der erste sein will. 40 Zeilen, mehr braucht ein richtiger Prärieläufer nicht. Ich habe sie schon im Kopf. An die Arbeit. Paff!

Rudolf Bussmann


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Raphael Urweider

ich stehe sittsam

ich stehe sittsam am zaun es ist morgen
die brücke hat augen aus rettungsringen

monet hätte manet hätte wer hätte nicht
denn es ist morgen und blau geht so leicht

von der hand verdünnt die sonne will es
so und legt sich grün ins wasser ich nicht

ich lehne mich sittsam an den zaun
die brücke hält sich auf reiherbeinen

maler mit gutem aug und sicherer hand
hätten diesen morgen auch so gemischt

ich bin ein zaungeher und schaue dem
morgen in den fluss so zergehen die farben


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Jurczok 1001

Streubombe

mi griffed ah bi Neumond
demokratisch wi Streubombe
jede cha wähle, ob er stärbe wott
oder zu ois chunt
friss Pommes frites
für Friede und Freiheit
wänn di e Bombe trifft
flüsst Bluet und kei Ketchup
es tut mer leid
i de Schwiiz
schiebemer e ruhige Chugle
produziered Waffe
läbed wiit weg vom Schuss
und chönds am TV gaffe
bruchemer verstrahlti Chind
mit zwei Chöpf und kei Ärm
bis mer märked,
dass es Arschlöcher sind,
mached Lärm!
ich schetze Läbensqualität
und liebe d' Wahrheit
vor allem wänn sie ufflügt
wie Kampfjets für d' Apartheid
im Vergliich zu anderne Länder
gahts ois bländed
zersch de Gwünn ihstriiche
nachher go Bluet spände
gäbts fü jedi Million
e Liiche in Chäller
wär underem Paradeplatz
e riisigs Massegrab
träumed wiiter vo Neutralität
und jassed in Tag


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Melinda Nadj Abonji

Exklusiv: Pius Jüngst

Gestern konnte der öffentlichkeitsscheue Zuchtforscher und Beichtstuhlbauer, Pius Jüngst, in einem römischen Hinterhof zu einem Exklusiv-Stell-Dich-Ein bewegt werden. MEHR NOCH: Unser knusprig flinkes Hänsel und Gretel Duo vermochte den Zuchtforscher artgerecht in die Enge zu treiben und ihm ein Exklusiv-Geständnis abzuringen. ABER DAS IST NOCH NICHT ALLES: Unsere feurig aufgestellte Sondereinheit zwang Pius Jüngst mit witzigen Witzen in die Knie: »Pius, plus, wink mal, dein Papa guckt dir zu. Plus minus Pius, küss den Boden, der jüngste Bericht wartet auf uns.« ABER DAS IST IMMER NOCH NICHT ALLES: Unsere Frischfangspezialisten setzten sich, während einem klassischen Ablenkungsmanöver, auf Jüngsts Rücken und leiteten einen derart köstliches Treiben ein, dass der sonst fast feindselige Pius in ein ekstatisches Ruckeln und Stammeln verfiel und ihm ein weiteres Exklusiv-Geständnis herausplatzte.
UND JETZT NOCH EINS: Beglückwünschen Sie uns mit uns zu unserer aufsehenerregenden Mission »Römischer Hinterhof. Auf dem Rücken des Beichtstuhlbauers und Zuchtforschers Pius Jüngst.« Benutzen Sie dazu die Glückwunschkarte WIR KRIEGEN DICH und gewinnen Sie die Exklusivgeheimnisse des weltabgewandten Pius auf T-Shirt, Tragtasche oder einem anderen Geheimnisträger.


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