Nummer 116 Zurück zum Archiv

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Erscheinungsdatum: August 2003

Auszüge:
Inhaltsverzeichnis
Über dieses Heft
Martin Zingg: Fisimatenten
Jochen Schimmang: Kopf nach unten!
Eine Nacht im Leben von Christoph Simon
 
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Inhaltsverzeichnis

(Unterstrichene Texte können angewählt werden)

Über dieses Heft
Martin Zingg: Fisimatenten
Anschriften Aufschriften Inschriften

Zsuzsana Gahse:
Sowiesowieso
Calgary
Lukas Bärfuss: Inschriften
Jürg Schubiger: Notausgang
Jürg Amann: zwei Gedichte
Gertrud Leutenegger: Zürich, ein Julitag
Ilma Rakusa: Blickfang I-III
Hansjörg Schertenleib: Horseman
Jochen Schimang: Kopf nach unten!

Soweit die Erinnerung
Walter Thümler: Gedicht
Iren Baumann: Gedichte
Wanda Schmid: Schwarz Holzer. Dramolett
Bernhard Bachmann: Gedichte
Michael Schmid: Prosa
Eva Maria Berg: Gedichte
Markus Bundi: Gedichte
Eine Nacht im Leben von Christoph Simon
Besprechungen und Hinweise
Rudolf Bussmann über Werner Morlang/Hanni Fries
Christoph Wegmann über Werner Lutz
Claudia Biester über Peter Bichsel
Werner Morlang über Richard Weihe
Elsbeth Pulver über Hans Bösch
Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren
Die Autorinnen und Autoren
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Über dieses Heft

Liebe Leserin, lieber Leser,

Wenn wir den Schreibtisch verlassen, die Haustür schliessen und uns in den öffentlichen Raum begeben, lassen wir die Welt des Geschriebenen, Gelesenen nur scheinbar hinter uns. In Wirklichkeit treten wir in die Sphäre von Texten ein, die uns an etwas erinnern ("Hier stand bis 1856 ein ..."), einen Hinweis geben („Jacob Burckhardt-Strasse“), etwas von uns wollen („Jetzt zugreifen!), uns belehren ("Die Brutvögel an diesem Ufer ..."), mahnen, warnen oder uns etwas verbieten. Diese Texte nehmen wir kaum wahr, lesen sie flüchtig, vergessen sie sogleich wieder. Obwohl – knüpfen sich daran nicht alte Geschichten oder Lebensläufe, verbirgt sich in ihnen nicht auch Unerzähltes?
Die vorliegende Nummer des „drehpunkt“ ist diesen Sprachinseln im öffentlichen Alltag gewidmet, sie steht unter dem Thema "Inschriften", wobei Piktogramme nicht mitgemeint sind. Sie werden sehen und lesen: Die Reaktionen der eingeladenen Autorinnen und Autoren sind so verschieden ausgefallen wie die Anstösse im öffentlichen Sprachraum.
Daneben finden Sie in dieser Nummer neue Lyrik und Prosa sowie ein Dramolett. Und wie immer: Besprechungen von belletristischen Neuerscheinungen. Wobei Elsbeth Pulvers Besprechung von "Schweben", dem jüngsten und letzten Roman von Hans Boesch, unversehens zum Nachruf geworden ist. Am 21. Juni ist Hans Boesch, der so überaus freundliche und genaue Erzähler, in Stäfa nach langer Krankheit gestorben.
Wir danken allen, die an dieser Nummer mitgearbeitet haben,
und wünschen Ihnen eine vergnügliche Lektüre
Rudolf Bussmann und Martin Zingg

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Martin Zingg

Fisimatenten

Aufräumen! Die Welt muss immer wieder mal aufgeräumt werden, sie hat es bitter nötig. Es sammelt sich ja so vieles an, das ganz einfach nicht hierher gehört. Weggeräumt gehören beispielsweise die Gefahren, denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind, da zeigen wir uns nicht abgeneigt. Und auch hierzu macht die, wie sie neuerdings immer öfter genannt wird, "letzte noch verbliebene Weltmacht" ihre Vorschläge. Sie denken, weil Sie an die USA denken, natürlich sofort an Filme und Videospiele mit brutalen Gewalt- und/oder Sex-Szenen. An Bilder also, die den Umgang mit Gewalt als den normalen Weg zur Lösung von Konflikten vorschlagen.
Zugegeben, das mit den brutalen Gewaltszenen im Kinderzimmer ist schlimm genug, auch wenn es meist bloss fiktive Tote sind, aber viel störender ist es doch, wenn in einem Schulbuch eine Geschichte über Delphine steht. Denn: Kinder aus den Bergen oder aus der Prärie werden durch eine solche Geschichte unglaublich benachteiligt, da sie keine eigenen Erfahrungen mit Delphinen machen können. An Waffen, ob echt oder bloss simuliert, kommen schliesslich alle ran. Aber an Delphine? Und was halten Sie von Geschichten mit Dinosauriern? Bitte, hat es die denn wirklich mal gegeben, sind Sie diesen Monstern bei der Lektüre der Schöpfungsgeschichte je mal begegnet? Eben nicht. Dachten wir uns doch. Vielleicht haben Sie aber mal in der Jugend eine Fabel gelesen, in welcher eine eitle, weibliche Krähe von einem schlauen, männlichen Fuchs erst über alle Massen gepriesen und anschliessend überredet wird, ihren Käse fallen zu lassen. Von Aesop oder von Lafontaine. Sowas sollten Sie nie mehr lesen, diese Fabel ist sexistisch. Ein Märchen wie "Aschenputtel" ist sexistisch, das scheint nach allem nicht zu erstaunen, und dass Harry Potter des (nicht beim Namen genannten) Teufels ist, ist wohl klar.
In ihrem Buch "The Language Police", dem die oben erwähnten Beispiele entstammen, dokumentiert die amerikanische Historikerin und Erzieherin Diane Ravitch die Exzesse politischer Korrektheit und des fundamentalistisch-christlichen Bekennertums – und damit einen Prozess schleichender Sprachreglementierung in den Vereinigten Staaten. Der Angriff gilt nicht nur den Schulbüchern, er zielt auch auf Bibliotheken. Inzwischen haben die Sprachpolizisten, die in vielen Bundesstaaten über die Zulassung von Schulbüchern befinden dürfen, ganz neue Problemfälle ausfindig gemacht. "Schneemann" beispielsweise ist sexistisch, Lösungsvorschlag: "Schneeperson". "Adam und Eva" ersetzen wir durch "Eva und Adam" und zeigen damit, dass Männer Frauen nicht beherrschen. "Cowboy" oder "Cowgirl"? Zweimal sexistisch. Ersatz: "Cowhand". Und wenn wir von "Eskimos" reden, sollten wir nicht den Sammelnamen gebrauchen, sondern sie "Inupiak" oder "Yupit" nennen, je nach Stamm. Wobei auch "Stamm" ein arroganter, westlicher Begriff ist, den der Weisse Mann für Eingeborene in ihren Hütten gebraucht. Und sowieso muss "Hütte", das ist Vorschrift, durch "kleines Haus" ersetzt werden.
Natürlich möchte man solche Skurrilitäten mit einer kleinen Handbewegung wegfächeln. Aber seit uns immer öfter mitgeteilt wird, dass so manches, was für die Vereinigten Staaten (281 Millionen Einwohner) angeblich gut ist, es auch für die restliche Welt (7 oder 8 Milliarden Einwohner) ist, haben Berichte über solche Skurrilitäten einen seltsamen Beigeschmack.

Martin Zingg


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Zsuzsanna Gahse

Sowiesowieso

Mitte November kam das Kündigungsschreiben meiner Firma; aus Rationalisierungsgründen müsse man in der Abteilung vier Mitarbeiter entlassen, hiess es da, und ich versuchte, nicht zu gründlich über diesen Brief nachzudenken, denn ich hatte gerade eine Lungenentzündung hinter mir und sollte möglichst viel ruhen, folglich hatte ich die Vorschriften, nicht zu arbeiten, mich zu erholen und nicht zu grübeln.
Mit hochgelegten Beinen war ich dabei, wirklich nichts zu denken, als mir ein Lied einfiel, und ich sang es etwa eine halbe Stunde lang, dann fiel mir noch ein Lied ein, und hinter dem zweiten Lied lauerte eine weitere Melodie und noch eine, nacheinander stiegen sie mir aus dem Kopf herab wie Flugzeuge auf wichtigen Flughäfen in einer sichtbaren Reihe auf einer bestimmten Linie nacheinander landen, Bonny and Clyde, they lived a lot together, Baker man is bakin’ bread, the night train is comin’ , Amor, amor, amor, dies kleine Wort, sagt dir sofort, dass ich dich liebe. Tagelang dauerten die Einfälle an, nach einer Woche wusste ich mir nicht anders zu helfen, als die Titel oder die Anfangszeilen der Lieder aufzuschreiben, nach zwei Wochen hatte ich bereits dreihundert Titel auf meiner Liste, so dass ich sie alphabetisch ordnen musste, um noch eine Übersicht zu haben, aber ein Ende der Musik im Kopf war nicht abzusehen.
Es ist nicht gut gesagt, dass sie mir aus dem Kopf einfielen, eher waren sie innerhalb des Kopfes verrutscht, von weit hinten nach vorne, sie rutschten aus einem sonst unbemerkten Speicher heraus, und ich konnte sie nicht wieder wegstecken, musste sie der Reihe nach vornehmen, anschauen, durchsingen, Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann, My baby just cares for me, Auf du junger Wandersmann, What do you get if you fall in love. Ein Lied konnte ich nur zum Schweigen bringen, indem ich das nächste fand. Oder ich muss es anders sagen, denn die meisten kamen paarweise oder sogar zu dritt, ich weiss nicht, nach welcher Ordnung, beziehungsweise würde mich gerade das interessieren, inwiefern und warum sie zusammengehörten. Viele von ihnen lagen wahrscheinlich nach Wörtern gespeichert, auf Ananas, kauft Ananas bei mir folgte Schoko, Schoko, Schokolata, oh Signore bitte, kaufen Sie Ihrer Gattin Schoko, Schoko… und danach folgten die Bananen-Gesänge, andere Früchte mehr und gleich darauf der griechische Wein, und weil Griechenland nicht ohne das Meer zu denken ist, kamen die Lieder mit allen Meeren und Ozeanen dran, zum Beispiel Sixteen Tons, oder auf Deutsch: Mit vierzehn Jahren fing ich als Schiffsjunge an. Auf Englisch klingt das Stück besser, aber selbst in der Übersetzung gefällt es mir, während mir sonst meist die grässlichsten Schlager eingefallen sind.
Wenn ich mich zwischendurch an den Tisch setzte und über eine sachliche Angelegenheit nachzudenken begann, rückten die Lieder in die Ferne, wobei ich mir den Kopf vor allem über die verlorene Arbeit und den neuen Job zerbrach, ich überlegte, welche Firmen zur Zeit nicht rationalisieren und mich anstellen könnten, ich begann zu telefonieren, bekam auch einige interessante Auskünfte, ich kam voran, allerdings wurde ich, während ich jeweils weiterverbunden wurde, selbst am Telefon mit Musik bedient, und war die Musik zu Ende, hörte ich mir die Erklärungen der Personalleute an, ihre Versprechungen, kleine Ausflüchte, und dabei überlegte ich, was für ein Job ich überhaupt brauchte, was ich wirklich brauchte. All you need is love, pa pa rapapam, fiel mir ein, denn im Hintergrund lauerte die Musik auch dann, wenn ich sozusagen nachdachte, das werde ich einem Neurologen darstellen müssen, ein unterschwelliges Kopflärmen war in meinem Kopf immer vorhanden, es lief ein Musikprogramm ab, Am goldenen Fluss lege ich mich nieder, Diese Stiefel sind zum Laufen gemacht, Armer Tom Dooly, du musst sterben, lass den Kopf hängen, ich habe den Sherif erschossen, vorbei ist es mit dem Sommerwein. Na ja, die Werbung weiss über solche Vorgänge längst Bescheid, sie rechnet damit, dass man in die Musik wie in Sumpf versinken kann, ihr ist es gleichgültig, welche Produkte sie anbietet, Hauptsache, die Begleitmelodien haften gut, und die haften, und vor den Fachleuten der Werbung haben das andere schon gewusst, sonst gäbe es keine Marschlieder, die auch nichts anderes wollen, als im Kopf etwas umzuschalten, damit man gut marschieren kann.
Als ich also im Bett herumlag und schon mehr als vierhundert Titel beisammen hatte, und mich etwas bleich darüber wunderte, dass wirklich erst die schlechteren und hernach erst die besseren Hits zum Vorschein kamen, und während ich immer noch mit Vocalgesang beschäftigt war, denn wie hätte ich denn die instrumentalen Stücke in meine alphabetische Liste aufnehmen können, und da ich sie nicht aufzunehmen plante, fielen sie mir auch nicht ein, was auch sehr merkwürdig ist, als ich also mehr als vierhundert Titel beisammen hatte, sah ich erst, wie viele Lieder mit Frauennamen zu tun hatten, sogar mit Frauennamen begannen, bestimmt ging es um verspätete Minnelieder. Hey Marylou, sieh mal an, dein Kleid ist schick und schick sind deine Schuh, Hey Missis Robinson, Matilda, Matilda, I gave you money. Heute mal ich dir ein Bild, Cindy Lou, Marina, Marina. Ich glaube, diese Art Texte gibt es im Augenblick weniger, vielleicht ist eine Minnegesangspause eingetreten, aus ist es mit den winzigen Einblicken in Liebesgeschichten um Juanita und Anita, aber um Geschichten geht es nach wie vor, die schon mit zwei oder drei Wörtern wirksam werden, nur haben die Wörter Widerhaken, mit denen sie sich im Kopf festhaken, irgendwo im Hinterkopf, sie klammern sich fest, bedrängen sich gegenseitig und warten auf den Augenblick einer kurzen Schwäche, einer kurzen instabilen Situation, um hintereinander vorzubrechen und alles Denken zu überfluten.
Nach fünf Wochen hatte ich ein Surren im Kopf, sowiesowieso, man kann es kaum verstehen, so irgendwie heisst auch ein Lied, und so surrte es. Nach sechs Wochen gab es in meiner Liste siebenhundertzweiunddreissig Eintragungen, was schon deshalb interessant ist, weil ich oft gehört habe, dass viele Menschen in ihrer Muttersprache mit einem Wortschatz von etwa eintausend Wörtern auskommen, dann wären die Anzahl der singbaren Lieder und die Anzahl der Wörter vergleichbar, aber die Wirkung der Lieder und der Wörter ist nicht vergleichbar. Es gibt eine Diktatur der Liederattacken, die nicht erholsam ist, bei der ich zumindest nicht gesund werden kann. Inzwischen bin ich selbst beim Telefonieren unsicher geworden, und sobald ich merke, dass mein Kopf wieder zu lärmen beginnt, sage ich, falsch verbunden!, falsch verbunden und lege auf. Ich treffe kaum noch jemanden, ich wüsste ja nicht, worüber ich sprechen sollte. Am Abend lache ich für mich allein, und dann löse ich wieder Kreuzworträtsel, die ganze Nacht, die ganze Nacht, Liebesgott mit vier Buchstaben, Amor, Amor, Amo-o-or!


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Jochen Schimmang

Kopf nach unten!

Notizen zu einer Inschrift auf Bodenniveau

Vor einigen Jahren bin ich, nach einem dreissigjährigen Ausflug in die Welt, zurückgekehrt in die Stadt meiner Jugend, im äussersten Nordwesten von Deutschland und nah an der niederländischen Grenze, und habe mich dort angesiedelt. Anders als damals laufen heute fast ganzjährig die Touristenscharen durch die Strassen, die zum Teil in Bussen, zum Teil individuell mit dem Zug oder Auto hier ankommen. Reisen Sie mit dem Auto an, gibt ihnen schon kurz vor jeder der drei Autobahnabfahrten das Schild Leer / Historische Altstadt die Richtung an. Durch diese historische Altstadt, in der ich wohne, laufen sie dann meist mit spürbarem Entzücken, wenn das Wetter nicht gar zu schlecht ist. Ihre Blicke richten sich verständlicherweise auf die Häuser und weiter nach oben, auf die mannigfachen Giebel und die Inschriften, die dort teilweise zu finden sind. Eine etwa informiert über das älteste noch erhaltene Haus der Stadt, gebaut 1572, ein anderes besagt, dass es die Weinhandlung Wolff seit 1800 gibt. An einem anderen Haus kann der lateinkundige Tourist dessen wechselhafte Geschichte (einschliesslich eines Brandes) nachlesen, die dort eingemeisselt ist. Das alles ist um so entzückender, als diese Altstadt der Gefahr entronnen ist, eine Puppenstube oder ein Freilichtmuseum zu werden, sondern ein lebendes, gut funktionierendes Viertel darstellt.
Der Besucher kommt also kaum dazu, seinen Blick einmal zu senken, wenn er von den Schönheiten des Viertels nichts verpassen will. Dabei hört die Schrift in unserer Stadt nicht in Augenhöhe auf. An bestimmten Stellen der Altstadt findet sich im Klinkerstein des Pflasters etwa folgender kurzer Hinweis eingeritzt: 1967 Geplante Westtangente, anderswo auch genauer 1967 Geplante Westtangente Östlicher Strassenrand. Hinter dem eleganten Namen Westtangente verbarg sich zuallererst die Abrissbirne. Ein erheblicher Teil der wunderschönen Altstadt, derentwegen die Besucher zu uns kommen, sollte in jenen späten sechziger und frühen siebziger Jahren abgerissen werden, um einer breiten Durchgangsstrasse mitten durch eben diese Altstadt Platz zu machen. Jenseits davon sollten Neubauten mit einem höheren Traufenniveau entstehen.
Zum Glück brauchen behördliche Planungen immer etwas länger, und zum Glück können sie nicht ganz und gar unter Verschluss gehalten werden. Das haben die damaligen Stadtväter auch keineswegs versucht. Sie waren schliesslich davon überzeugt, planerisch weitblickend der Stadt etwas Gutes zu tun und dachten damit ganz im Geist der Zeit.
Die sechziger Jahre! Ich denke noch immer liebevoll an sie, denn sie waren das Jahrzehnt meiner frühen Jugend. Sie haben uns die Beatles gebracht und die französische Neue Welle, Rudi Dutschke und die Pop Art, den Minirock und den Strukturalismus, Swinging London und den Pariser Mai. Mein Gedächtnis täuscht mich jedoch immer wieder darüber hinweg, dass sie uns auch sehr viel Plastik gebracht haben, und wenn ich schon daran denke, will mir scheinen, dass Plastik damals wenigstens schöner war als heute. Das Jahrzehnt der grossen Erneuerung war naturgemäss auch eins der grossen Zerstörung, aber als Genosse des damaligen Zeitgeistes, und als Jugendlicher dazu, schreckte mich die Zerstörung nicht. Ich nahm sie einfach nicht wahr.
Die Zerstörung in der Stadt meiner Jugend, die weitgehend in den Planungen stecken blieb, ging ganz und gar an meinem Bewusstsein vorbei. Die heute wunderschöne Altstadt war damals eher ein Viertel für die sozial Schwachen, zu denen meine Familie nicht gehörte, und ich kannte sie kaum. Von ihrem geplanten Abriss hatte ich nichts gehört, und er hätte mich auch nicht interessiert. Im Frühjahr 1969 verliess ich meine Stadt dann ganz, um in Westberlin zu studieren. Die Schreckensgeschichte also, von der die Schrift im Strassenpflaster zeugt, ist für mich persönlich erst später Schreckensgeschichte geworden. Sie funktioniert nach dem Modell des Reiters über den Bodensee. Was alles hätte passieren können, erfuhr ich erst bei gelegentlichen Besuchen in den achtziger Jahren, und es erschreckt mich heute um so nachhaltiger, je länger ich darüber nachdenke. Einiges ist auch passiert: so sind die Weberhäuser abgerissen worden, die davon zeugten, dass die Stadt lange Zeit hauptsächlich von der Leinenweberei lebte, bevor die niederländische Konkurrenz aufgrund fortgeschrittener Produktionsverhältnisse und -methoden siegte.
Dann jedoch – während ich in Berlin in ganz andere, ungleich abstraktere Kämpfe verwickelt war – regte sich der Widerstand, so wie etwa zur gleichen Zeit im Frankfurter Westend der sogenannte Häuserkampf tobte: nur dass es in Leer/Ostfriesland um viel ältere Häuser ging als am Main. Der Widerstand wurde auch nicht von revoltierenden Studenten und Hausbesetzern getragen, die es hier gar nicht geben konnte, sondern unter anderem von durchaus gut situierten Bürgern der alten Handelsstadt, die dem Begriff der Bürgerinitiative im Wortsinn sehr viel mehr entsprachen als der klassische Typus des Hausbesetzers. In der offiziellen Sprachregelung heisst es heute gern, etwa ab 1973/74 habe in der Stadtverwaltung »ein Umdenken eingesetzt«. Dieses Umdenken mag dem Druck durch die Bürger ebenso geschuldet sein wie der Tatsache, dass etwa zur selben Zeit erhebliche Mittel der Europäischen Gemeinschaft für die Sanierung und Erhaltung alter Viertel flossen, während es in den Jahren davor Gelder vor allem für den Ausbau von Verkehrswegen gegeben hatte, also für die Öffnung und Vernichtung von Räumen.
Der wundersame Rettungs- und Verschönerungsprozess des Viertels, der uns heute jährlich so viele Besucher einträgt, führte schliesslich dazu, dass ich bei meinen gelegentlichen Besuchen in der Stadt die Altstadt buchstäblich erstmals entdeckte, während sie in der Zeit, als ich hier zur Schule gegangen war, im grossen und ganzen ein Gerücht für mich blieb. Er führte sogar dazu, dass ich mir sagte: »Wenn ich jemals wieder hierhin zurückkehren sollte, dann möchte ich nur in diesem Viertel wohnen.«
So ist es dann auch gekommen.
Meine nachträgliche Schreckensgeschichte aber hat noch einen sehr viel persönlicheren Akzent. In den sechziger Jahren, als die Planungen zur Vernichtung der Altstadt begannen, war mein Vater in dieser Stadt nicht nur Stadtkämmerer, sondern auch stellvertretender Stadtdirektor, also der zweite Mann in der Verwaltung. Ich kann ihn schon lange nicht mehr fragen, wieviel er davon gewusst hat. Natürlich hat er davon gewusst; interessanter aber wäre die Frage, wie weit er diese Planungen unterstützt oder dagegen opponiert hat. Denn um Vernichtung ging es ja tatsächlich, auch wenn die Stadtväter – ja doch, es waren Väter, die Stadtmütter hatten bestenfalls die Position einer Chefsekretärin – ein so belastetes Wort weit von sich gewiesen hätten. Es ging sogar um Existenzfragen, in dem Sinne des überwältigend schönen und klaren Satzes von Robert Walser: »Wenn alles neu ist, möchte ich nicht mehr leben.«
Es ist klar, dass die Frage nach der Schuld oder Mitschuld meines Vaters, bezogen auf die geplante Vernichtung eines ganzen Viertels, des schönsten Viertels in der Stadt – dass diese Frage exakt nach dem Modell aller Deutschen meiner Generation an ihre Eltern gebildet ist: Was habt ihr gewusst? Was habt ihr dagegen getan? Oder habt ihr mitgemacht? Mit einem Wort, beim Blick auf die Inschriften im Pflaster unserer Altstadt frage ich mich manchmal, was ich mich in Hinsicht auf die Hitlerzeit nie gefragt habe: War mein Vater vielleicht ein böser Mann? Oder war er ein stiller Held des Widerstands? Oder ein Mitläufer?
Diese Fragen sind gewiss alle um so blödsinniger, als ich selber schliesslich von meiner eigenen Stadt keine Ahnung hatte und mich schon in meinen letzten Jahren hier eher um den Spätkapitalismus und die Dritte Welt kümmerte, wogegen ja auch nichts einzuwenden ist. Ich weiss, ich kann nicht posthum auf meinen Vater zeigen und sagen: »Du hättest Widerstand leisten müssen.« Das wäre wohl eher mein eigener Job gewesen.
Was man am Ende noch lernen kann aus dieser Geschichte, das betrifft gleichsam die verschiedenen Körperhaltungen der Aufmerksamkeit. Ganz bestimmt ist es nötig und legitim, mit erhobenem Kopf durch die Welt zu gehen und den Blick auf ihre Herrlichkeiten zu richten. Nicht umsonst aber haben die Stadtväter hier die Erinnerung an die Schmach, der sie knapp entgangen sind, ins Pflaster versenkt, denn dort wird sie kaum jemand entdecken. Um also den Subtext der Verhältnisse lesen zu können, empfiehlt es sich, hier wie anderswo, zuweilen die Nase nah am Boden zu haben, dem Beispiel unseres Hundes auf unermüdlicher Spurensuche folgend. Ohne ihn hätte ich die Schrift im Pflaster vielleicht nie entdeckt.


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Eine Nacht im Leben von ...

Christoph Simon

Ich schrieb ein Buch: "Wohngemeinschaft oder Niemand wird je aufhören, dir wehzutun". Was meine WG-Kollegen veranlasste, auszuziehen, Fernseher, Minibar und Freundeskreis mitzunehmen und mich in drei leeren Zimmern
(achtzig Quadratmeter mitten in der Stadt, Parterre, kleine Küche, kleiner Balkon) zurückzulassen. Wochenlang verschwendete ich die anfallenden Tantiemen für ein einsames Leben, schloss mich im Zimmer ein, lag auf dem
Bett, Schokolade essend, Novellen lesend, soziale Geräusche von den Wohnungen über mir her.
Eines Abends wurde mir langweilig. Auf der Suche nach einer sinnvollen Abendbeschäftigung besuchte ich meine Nachbarn - und stiess auf Tierhalter... "Harry hat sich eine chinesische Zwergwachtel gekauft", sagt Frau Wenk von
nebenan.
"So?" sage ich, blicke zu Herrn Wenk. Herr Wenk deutet mit dem Kopf auf den Käfig beim Fenster, über den ein
schwarzes Tuch gebreitet ist. "Sie wollen sie sehen, ja?" Ich folge den beiden zum Käfig, Herr Wenk zieht das Tuch weg. "Da", sagt er. Ich sehe mir die Wachtel an. Ein faustgrosses Tier, das stumpfsinnig vor der Bademöglichkeit im Sand steht und den grauen Kopf nicht stillhalten kann.
"Was kostet der Spass?" frage ich.
Wenks lächeln bedeutungsvoll.
"Kommen Sie schon, wieviel?" Ich klimpere an den Gitterstäben. Die Wachtel hüpft.
Frau Wenk im Plauderton: "Sie sind ein Stubenvogel-Mann wie Harry, nicht
wahr?"
"Mehr oder weniger."
"Was für Tiere lieben denn Dichter wie Sie?"
"Katzen", sage ich.
Langes Schweigen, bis Herr Wenk den Käfig wieder zudeckt. "Ein ehrlicher Mann. Legt die Karten auf den Tisch. Gefällt mir."

Frau Sommer vom zweiten Stock hält sich Mauereidechsen in einer hohen Holzkiste: Glatt gehobelt, an den Kanten versteift und mit Drahtgaze verschlossen. Frau Sommer will wirklich nicht, dass jemand abhaut. "Ich weiss nicht, wie ich Œs nett oder höflich sagen kann", sage ich, während ich die von einer Terrasollampe beschienenen Eidechsen in der Kiste - im Kies, auf dem Kletterast, auf dem Stein - zähle. "Was liegt ihnen an dem Kriechzeug?" Ich zähle fünf olivgrün gefärbte, mit einem Gitterwerk feiner
Flecken besetzte Widerlinge.
"Sie mögen keine Reptilien, richtig?"
"Weder Fisch noch Fleisch."
"Wer sich Echsen hält und die Geduld mitbringt, sie zu beobachten, wird viel
erzählen können."
"Sie sonnen sich, ihr Dung riecht scharf."
"Sie legen Reviere an und bekämpfen sich. Ihr Verhalten macht sie zu sehr
interessanten Tieren."
Ich zucke mit den Schultern.
"Sie mögen überhaupt keine Tiere", sagt Frau Sommer.
"Tiere können Bissverletzungen zufügen", sage ich. "Durch Erschrecken Personenschaden verursachen oder Verkehrsunfälle herbeiführen."
"Man muss Tiere als Art Geschwister ansehen", meint Frau Sommer ehrlich (meine Nachbarschaft findet es langweilig, sich über Tiere lustig zu machen), "Geschwister, die sich nicht grundsätzlich von uns unterscheiden.
Sie tragen Organe wie wir, paaren sich, werden krank und sterben wie wir."

"Sind Fische dumm?"
Meine Frage weckt Sebastian (Mansarde im vierten) aus seinen Träumen. Wir stehen vor seinem Aquarium - ein kleines Becken mit Luftpumpe, Stabheizer, Bausand, Wasserpflanzen - und ein paar bunten tropischen Süsswasserfischen, die dem Schönheitsbedürfnis des Aquarianers entgegenkommen.
"Fische gehören zu den ältesten Lebewesen der Erde", antwortet Sebastian.
"Sie atmen durch Kiemen und schwimmen mit Flossen. Sie haben erreicht, was
sie erreichen konnten."

Um Mitternacht war ich zurück in meiner Wohnung. Stellte ein Goldfischglas
auf den Wohnzimmerboden, legte mich davor, Schokolade essend, eine Novelle
vorlesend. Ein Goldfischglas, in dem ein einsamer Bruder seine Kreise zog...


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