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Anschriften
Aufschriften Inschriften |
Erscheinungsdatum: August 2003
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Über dieses Heft
Liebe Leserin, lieber Leser,
Wenn wir den Schreibtisch verlassen, die Haustür
schliessen und uns in den öffentlichen Raum begeben, lassen
wir die Welt des Geschriebenen, Gelesenen nur scheinbar hinter uns.
In Wirklichkeit treten wir in die Sphäre von Texten ein, die
uns an etwas erinnern ("Hier stand bis 1856 ein ..."),
einen Hinweis geben („Jacob Burckhardt-Strasse“), etwas
von uns wollen („Jetzt zugreifen!), uns belehren ("Die
Brutvögel an diesem Ufer ..."), mahnen, warnen oder uns
etwas verbieten. Diese Texte nehmen wir kaum wahr, lesen sie flüchtig,
vergessen sie sogleich wieder. Obwohl – knüpfen sich
daran nicht alte Geschichten oder Lebensläufe, verbirgt sich
in ihnen nicht auch Unerzähltes?
Die vorliegende Nummer des „drehpunkt“ ist diesen Sprachinseln
im öffentlichen Alltag gewidmet, sie steht unter dem Thema
"Inschriften", wobei Piktogramme nicht mitgemeint sind.
Sie werden sehen und lesen: Die Reaktionen der eingeladenen Autorinnen
und Autoren sind so verschieden ausgefallen wie die Anstösse
im öffentlichen Sprachraum.
Daneben finden Sie in dieser Nummer neue Lyrik und Prosa sowie ein
Dramolett. Und wie immer: Besprechungen von belletristischen Neuerscheinungen.
Wobei Elsbeth Pulvers Besprechung von "Schweben", dem
jüngsten und letzten Roman von Hans Boesch, unversehens zum
Nachruf geworden ist. Am 21. Juni ist Hans Boesch, der so überaus
freundliche und genaue Erzähler, in Stäfa nach langer
Krankheit gestorben.
Wir danken allen, die an dieser Nummer mitgearbeitet haben,
und wünschen Ihnen eine vergnügliche Lektüre
Rudolf Bussmann und Martin Zingg |
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Martin Zingg
Fisimatenten
Aufräumen! Die Welt muss
immer wieder mal aufgeräumt werden, sie hat es bitter
nötig. Es sammelt sich ja so vieles an, das ganz einfach
nicht hierher gehört. Weggeräumt gehören beispielsweise
die Gefahren, denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind,
da zeigen wir uns nicht abgeneigt. Und auch hierzu macht die,
wie sie neuerdings immer öfter genannt wird, "letzte
noch verbliebene Weltmacht" ihre Vorschläge. Sie
denken, weil Sie an die USA denken, natürlich sofort
an Filme und Videospiele mit brutalen Gewalt- und/oder Sex-Szenen.
An Bilder also, die den Umgang mit Gewalt als den normalen
Weg zur Lösung von Konflikten vorschlagen.
Zugegeben, das mit den brutalen Gewaltszenen im Kinderzimmer
ist schlimm genug, auch wenn es meist bloss fiktive Tote sind,
aber viel störender ist es doch, wenn in einem Schulbuch
eine Geschichte über Delphine steht. Denn: Kinder aus
den Bergen oder aus der Prärie werden durch eine solche
Geschichte unglaublich benachteiligt, da sie keine eigenen
Erfahrungen mit Delphinen machen können. An Waffen, ob
echt oder bloss simuliert, kommen schliesslich alle ran. Aber
an Delphine? Und was halten Sie von Geschichten mit Dinosauriern?
Bitte, hat es die denn wirklich mal gegeben, sind Sie diesen
Monstern bei der Lektüre der Schöpfungsgeschichte
je mal begegnet? Eben nicht. Dachten wir uns doch. Vielleicht
haben Sie aber mal in der Jugend eine Fabel gelesen, in welcher
eine eitle, weibliche Krähe von einem schlauen, männlichen
Fuchs erst über alle Massen gepriesen und anschliessend
überredet wird, ihren Käse fallen zu lassen. Von
Aesop oder von Lafontaine. Sowas sollten Sie nie mehr lesen,
diese Fabel ist sexistisch. Ein Märchen wie "Aschenputtel"
ist sexistisch, das scheint nach allem nicht zu erstaunen,
und dass Harry Potter des (nicht beim Namen genannten) Teufels
ist, ist wohl klar.
In ihrem Buch "The Language Police", dem die oben
erwähnten Beispiele entstammen, dokumentiert die amerikanische
Historikerin und Erzieherin Diane Ravitch die Exzesse politischer
Korrektheit und des fundamentalistisch-christlichen Bekennertums
– und damit einen Prozess schleichender Sprachreglementierung
in den Vereinigten Staaten. Der Angriff gilt nicht nur den
Schulbüchern, er zielt auch auf Bibliotheken. Inzwischen
haben die Sprachpolizisten, die in vielen Bundesstaaten über
die Zulassung von Schulbüchern befinden dürfen,
ganz neue Problemfälle ausfindig gemacht. "Schneemann"
beispielsweise ist sexistisch, Lösungsvorschlag: "Schneeperson".
"Adam und Eva" ersetzen wir durch "Eva und
Adam" und zeigen damit, dass Männer Frauen nicht
beherrschen. "Cowboy" oder "Cowgirl"?
Zweimal sexistisch. Ersatz: "Cowhand". Und wenn
wir von "Eskimos" reden, sollten wir nicht den Sammelnamen
gebrauchen, sondern sie "Inupiak" oder "Yupit"
nennen, je nach Stamm. Wobei auch "Stamm" ein arroganter,
westlicher Begriff ist, den der Weisse Mann für Eingeborene
in ihren Hütten gebraucht. Und sowieso muss "Hütte",
das ist Vorschrift, durch "kleines Haus" ersetzt
werden.
Natürlich möchte man solche Skurrilitäten mit
einer kleinen Handbewegung wegfächeln. Aber seit uns
immer öfter mitgeteilt wird, dass so manches, was für
die Vereinigten Staaten (281 Millionen Einwohner) angeblich
gut ist, es auch für die restliche Welt (7 oder 8 Milliarden
Einwohner) ist, haben Berichte über solche Skurrilitäten
einen seltsamen Beigeschmack.
Martin Zingg
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Zsuzsanna Gahse
Sowiesowieso
Mitte November kam das Kündigungsschreiben
meiner Firma; aus Rationalisierungsgründen müsse man
in der Abteilung vier Mitarbeiter entlassen, hiess es da, und
ich versuchte, nicht zu gründlich über diesen Brief
nachzudenken, denn ich hatte gerade eine Lungenentzündung
hinter mir und sollte möglichst viel ruhen, folglich hatte
ich die Vorschriften, nicht zu arbeiten, mich zu erholen und
nicht zu grübeln.
Mit hochgelegten Beinen war ich dabei, wirklich nichts zu denken,
als mir ein Lied einfiel, und ich sang es etwa eine halbe Stunde
lang, dann fiel mir noch ein Lied ein, und hinter dem zweiten
Lied lauerte eine weitere Melodie und noch eine, nacheinander
stiegen sie mir aus dem Kopf herab wie Flugzeuge auf wichtigen
Flughäfen in einer sichtbaren Reihe auf einer bestimmten
Linie nacheinander landen, Bonny and Clyde, they lived a lot
together, Baker man is bakin’ bread, the night train is
comin’ , Amor, amor, amor, dies kleine Wort, sagt dir
sofort, dass ich dich liebe. Tagelang dauerten die Einfälle
an, nach einer Woche wusste ich mir nicht anders zu helfen,
als die Titel oder die Anfangszeilen der Lieder aufzuschreiben,
nach zwei Wochen hatte ich bereits dreihundert Titel auf meiner
Liste, so dass ich sie alphabetisch ordnen musste, um noch eine
Übersicht zu haben, aber ein Ende der Musik im Kopf war
nicht abzusehen.
Es ist nicht gut gesagt, dass sie mir aus dem Kopf einfielen,
eher waren sie innerhalb des Kopfes verrutscht, von weit hinten
nach vorne, sie rutschten aus einem sonst unbemerkten Speicher
heraus, und ich konnte sie nicht wieder wegstecken, musste sie
der Reihe nach vornehmen, anschauen, durchsingen, Ich will keine
Schokolade, ich will lieber einen Mann, My baby just cares for
me, Auf du junger Wandersmann, What do you get if you fall in
love. Ein Lied konnte ich nur zum Schweigen bringen, indem ich
das nächste fand. Oder ich muss es anders sagen, denn die
meisten kamen paarweise oder sogar zu dritt, ich weiss nicht,
nach welcher Ordnung, beziehungsweise würde mich gerade
das interessieren, inwiefern und warum sie zusammengehörten.
Viele von ihnen lagen wahrscheinlich nach Wörtern gespeichert,
auf Ananas, kauft Ananas bei mir folgte Schoko, Schoko, Schokolata,
oh Signore bitte, kaufen Sie Ihrer Gattin Schoko, Schoko…
und danach folgten die Bananen-Gesänge, andere Früchte
mehr und gleich darauf der griechische Wein, und weil Griechenland
nicht ohne das Meer zu denken ist, kamen die Lieder mit allen
Meeren und Ozeanen dran, zum Beispiel Sixteen Tons, oder auf
Deutsch: Mit vierzehn Jahren fing ich als Schiffsjunge an. Auf
Englisch klingt das Stück besser, aber selbst in der Übersetzung
gefällt es mir, während mir sonst meist die grässlichsten
Schlager eingefallen sind.
Wenn ich mich zwischendurch an den Tisch setzte und über
eine sachliche Angelegenheit nachzudenken begann, rückten
die Lieder in die Ferne, wobei ich mir den Kopf vor allem über
die verlorene Arbeit und den neuen Job zerbrach, ich überlegte,
welche Firmen zur Zeit nicht rationalisieren und mich anstellen
könnten, ich begann zu telefonieren, bekam auch einige
interessante Auskünfte, ich kam voran, allerdings wurde
ich, während ich jeweils weiterverbunden wurde, selbst
am Telefon mit Musik bedient, und war die Musik zu Ende, hörte
ich mir die Erklärungen der Personalleute an, ihre Versprechungen,
kleine Ausflüchte, und dabei überlegte ich, was für
ein Job ich überhaupt brauchte, was ich wirklich brauchte.
All you need is love, pa pa rapapam, fiel mir ein, denn im Hintergrund
lauerte die Musik auch dann, wenn ich sozusagen nachdachte,
das werde ich einem Neurologen darstellen müssen, ein unterschwelliges
Kopflärmen war in meinem Kopf immer vorhanden, es lief
ein Musikprogramm ab, Am goldenen Fluss lege ich mich nieder,
Diese Stiefel sind zum Laufen gemacht, Armer Tom Dooly, du musst
sterben, lass den Kopf hängen, ich habe den Sherif erschossen,
vorbei ist es mit dem Sommerwein. Na ja, die Werbung weiss über
solche Vorgänge längst Bescheid, sie rechnet damit,
dass man in die Musik wie in Sumpf versinken kann, ihr ist es
gleichgültig, welche Produkte sie anbietet, Hauptsache,
die Begleitmelodien haften gut, und die haften, und vor den
Fachleuten der Werbung haben das andere schon gewusst, sonst
gäbe es keine Marschlieder, die auch nichts anderes wollen,
als im Kopf etwas umzuschalten, damit man gut marschieren kann.
Als ich also im Bett herumlag und schon mehr als vierhundert
Titel beisammen hatte, und mich etwas bleich darüber wunderte,
dass wirklich erst die schlechteren und hernach erst die besseren
Hits zum Vorschein kamen, und während ich immer noch mit
Vocalgesang beschäftigt war, denn wie hätte ich denn
die instrumentalen Stücke in meine alphabetische Liste
aufnehmen können, und da ich sie nicht aufzunehmen plante,
fielen sie mir auch nicht ein, was auch sehr merkwürdig
ist, als ich also mehr als vierhundert Titel beisammen hatte,
sah ich erst, wie viele Lieder mit Frauennamen zu tun hatten,
sogar mit Frauennamen begannen, bestimmt ging es um verspätete
Minnelieder. Hey Marylou, sieh mal an, dein Kleid ist schick
und schick sind deine Schuh, Hey Missis Robinson, Matilda, Matilda,
I gave you money. Heute mal ich dir ein Bild, Cindy Lou, Marina,
Marina. Ich glaube, diese Art Texte gibt es im Augenblick weniger,
vielleicht ist eine Minnegesangspause eingetreten, aus ist es
mit den winzigen Einblicken in Liebesgeschichten um Juanita
und Anita, aber um Geschichten geht es nach wie vor, die schon
mit zwei oder drei Wörtern wirksam werden, nur haben die
Wörter Widerhaken, mit denen sie sich im Kopf festhaken,
irgendwo im Hinterkopf, sie klammern sich fest, bedrängen
sich gegenseitig und warten auf den Augenblick einer kurzen
Schwäche, einer kurzen instabilen Situation, um hintereinander
vorzubrechen und alles Denken zu überfluten.
Nach fünf Wochen hatte ich ein Surren im Kopf, sowiesowieso,
man kann es kaum verstehen, so irgendwie heisst auch ein Lied,
und so surrte es. Nach sechs Wochen gab es in meiner Liste siebenhundertzweiunddreissig
Eintragungen, was schon deshalb interessant ist, weil ich oft
gehört habe, dass viele Menschen in ihrer Muttersprache
mit einem Wortschatz von etwa eintausend Wörtern auskommen,
dann wären die Anzahl der singbaren Lieder und die Anzahl
der Wörter vergleichbar, aber die Wirkung der Lieder und
der Wörter ist nicht vergleichbar. Es gibt eine Diktatur
der Liederattacken, die nicht erholsam ist, bei der ich zumindest
nicht gesund werden kann. Inzwischen bin ich selbst beim Telefonieren
unsicher geworden, und sobald ich merke, dass mein Kopf wieder
zu lärmen beginnt, sage ich, falsch verbunden!, falsch
verbunden und lege auf. Ich treffe kaum noch jemanden, ich wüsste
ja nicht, worüber ich sprechen sollte. Am Abend lache ich
für mich allein, und dann löse ich wieder Kreuzworträtsel,
die ganze Nacht, die ganze Nacht, Liebesgott mit vier Buchstaben,
Amor, Amor, Amo-o-or! |
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Jochen Schimmang
Kopf nach unten!
Notizen zu einer Inschrift auf Bodenniveau
Vor einigen Jahren bin ich, nach einem dreissigjährigen
Ausflug in die Welt, zurückgekehrt in die Stadt meiner
Jugend, im äussersten Nordwesten von Deutschland und
nah an der niederländischen Grenze, und habe mich dort
angesiedelt. Anders als damals laufen heute fast ganzjährig
die Touristenscharen durch die Strassen, die zum Teil in Bussen,
zum Teil individuell mit dem Zug oder Auto hier ankommen.
Reisen Sie mit dem Auto an, gibt ihnen schon kurz vor jeder
der drei Autobahnabfahrten das Schild Leer / Historische Altstadt
die Richtung an. Durch diese historische Altstadt, in der
ich wohne, laufen sie dann meist mit spürbarem Entzücken,
wenn das Wetter nicht gar zu schlecht ist. Ihre Blicke richten
sich verständlicherweise auf die Häuser und weiter
nach oben, auf die mannigfachen Giebel und die Inschriften,
die dort teilweise zu finden sind. Eine etwa informiert über
das älteste noch erhaltene Haus der Stadt, gebaut 1572,
ein anderes besagt, dass es die Weinhandlung Wolff seit 1800
gibt. An einem anderen Haus kann der lateinkundige Tourist
dessen wechselhafte Geschichte (einschliesslich eines Brandes)
nachlesen, die dort eingemeisselt ist. Das alles ist um so
entzückender, als diese Altstadt der Gefahr entronnen
ist, eine Puppenstube oder ein Freilichtmuseum zu werden,
sondern ein lebendes, gut funktionierendes Viertel darstellt.
Der Besucher kommt also kaum dazu, seinen Blick einmal zu
senken, wenn er von den Schönheiten des Viertels nichts
verpassen will. Dabei hört die Schrift in unserer Stadt
nicht in Augenhöhe auf. An bestimmten Stellen der Altstadt
findet sich im Klinkerstein des Pflasters etwa folgender kurzer
Hinweis eingeritzt: 1967 Geplante Westtangente, anderswo auch
genauer 1967 Geplante Westtangente Östlicher Strassenrand.
Hinter dem eleganten Namen Westtangente verbarg sich zuallererst
die Abrissbirne. Ein erheblicher Teil der wunderschönen
Altstadt, derentwegen die Besucher zu uns kommen, sollte in
jenen späten sechziger und frühen siebziger Jahren
abgerissen werden, um einer breiten Durchgangsstrasse mitten
durch eben diese Altstadt Platz zu machen. Jenseits davon
sollten Neubauten mit einem höheren Traufenniveau entstehen.
Zum Glück brauchen behördliche Planungen immer etwas
länger, und zum Glück können sie nicht ganz
und gar unter Verschluss gehalten werden. Das haben die damaligen
Stadtväter auch keineswegs versucht. Sie waren schliesslich
davon überzeugt, planerisch weitblickend der Stadt etwas
Gutes zu tun und dachten damit ganz im Geist der Zeit.
Die sechziger Jahre! Ich denke noch immer liebevoll an sie,
denn sie waren das Jahrzehnt meiner frühen Jugend. Sie
haben uns die Beatles gebracht und die französische Neue
Welle, Rudi Dutschke und die Pop Art, den Minirock und den
Strukturalismus, Swinging London und den Pariser Mai. Mein
Gedächtnis täuscht mich jedoch immer wieder darüber
hinweg, dass sie uns auch sehr viel Plastik gebracht haben,
und wenn ich schon daran denke, will mir scheinen, dass Plastik
damals wenigstens schöner war als heute. Das Jahrzehnt
der grossen Erneuerung war naturgemäss auch eins der
grossen Zerstörung, aber als Genosse des damaligen Zeitgeistes,
und als Jugendlicher dazu, schreckte mich die Zerstörung
nicht. Ich nahm sie einfach nicht wahr.
Die Zerstörung in der Stadt meiner Jugend, die weitgehend
in den Planungen stecken blieb, ging ganz und gar an meinem
Bewusstsein vorbei. Die heute wunderschöne Altstadt war
damals eher ein Viertel für die sozial Schwachen, zu
denen meine Familie nicht gehörte, und ich kannte sie
kaum. Von ihrem geplanten Abriss hatte ich nichts gehört,
und er hätte mich auch nicht interessiert. Im Frühjahr
1969 verliess ich meine Stadt dann ganz, um in Westberlin
zu studieren. Die Schreckensgeschichte also, von der die Schrift
im Strassenpflaster zeugt, ist für mich persönlich
erst später Schreckensgeschichte geworden. Sie funktioniert
nach dem Modell des Reiters über den Bodensee. Was alles
hätte passieren können, erfuhr ich erst bei gelegentlichen
Besuchen in den achtziger Jahren, und es erschreckt mich heute
um so nachhaltiger, je länger ich darüber nachdenke.
Einiges ist auch passiert: so sind die Weberhäuser abgerissen
worden, die davon zeugten, dass die Stadt lange Zeit hauptsächlich
von der Leinenweberei lebte, bevor die niederländische
Konkurrenz aufgrund fortgeschrittener Produktionsverhältnisse
und -methoden siegte.
Dann jedoch – während ich in Berlin in ganz andere,
ungleich abstraktere Kämpfe verwickelt war – regte
sich der Widerstand, so wie etwa zur gleichen Zeit im Frankfurter
Westend der sogenannte Häuserkampf tobte: nur dass es
in Leer/Ostfriesland um viel ältere Häuser ging
als am Main. Der Widerstand wurde auch nicht von revoltierenden
Studenten und Hausbesetzern getragen, die es hier gar nicht
geben konnte, sondern unter anderem von durchaus gut situierten
Bürgern der alten Handelsstadt, die dem Begriff der Bürgerinitiative
im Wortsinn sehr viel mehr entsprachen als der klassische
Typus des Hausbesetzers. In der offiziellen Sprachregelung
heisst es heute gern, etwa ab 1973/74 habe in der Stadtverwaltung
»ein Umdenken eingesetzt«. Dieses Umdenken mag
dem Druck durch die Bürger ebenso geschuldet sein wie
der Tatsache, dass etwa zur selben Zeit erhebliche Mittel
der Europäischen Gemeinschaft für die Sanierung
und Erhaltung alter Viertel flossen, während es in den
Jahren davor Gelder vor allem für den Ausbau von Verkehrswegen
gegeben hatte, also für die Öffnung und Vernichtung
von Räumen.
Der wundersame Rettungs- und Verschönerungsprozess des
Viertels, der uns heute jährlich so viele Besucher einträgt,
führte schliesslich dazu, dass ich bei meinen gelegentlichen
Besuchen in der Stadt die Altstadt buchstäblich erstmals
entdeckte, während sie in der Zeit, als ich hier zur
Schule gegangen war, im grossen und ganzen ein Gerücht
für mich blieb. Er führte sogar dazu, dass ich mir
sagte: »Wenn ich jemals wieder hierhin zurückkehren
sollte, dann möchte ich nur in diesem Viertel wohnen.«
So ist es dann auch gekommen.
Meine nachträgliche Schreckensgeschichte aber hat noch
einen sehr viel persönlicheren Akzent. In den sechziger
Jahren, als die Planungen zur Vernichtung der Altstadt begannen,
war mein Vater in dieser Stadt nicht nur Stadtkämmerer,
sondern auch stellvertretender Stadtdirektor, also der zweite
Mann in der Verwaltung. Ich kann ihn schon lange nicht mehr
fragen, wieviel er davon gewusst hat. Natürlich hat er
davon gewusst; interessanter aber wäre die Frage, wie
weit er diese Planungen unterstützt oder dagegen opponiert
hat. Denn um Vernichtung ging es ja tatsächlich, auch
wenn die Stadtväter – ja doch, es waren Väter,
die Stadtmütter hatten bestenfalls die Position einer
Chefsekretärin – ein so belastetes Wort weit von
sich gewiesen hätten. Es ging sogar um Existenzfragen,
in dem Sinne des überwältigend schönen und
klaren Satzes von Robert Walser: »Wenn alles neu ist,
möchte ich nicht mehr leben.«
Es ist klar, dass die Frage nach der Schuld oder Mitschuld
meines Vaters, bezogen auf die geplante Vernichtung eines
ganzen Viertels, des schönsten Viertels in der Stadt
– dass diese Frage exakt nach dem Modell aller Deutschen
meiner Generation an ihre Eltern gebildet ist: Was habt ihr
gewusst? Was habt ihr dagegen getan? Oder habt ihr mitgemacht?
Mit einem Wort, beim Blick auf die Inschriften im Pflaster
unserer Altstadt frage ich mich manchmal, was ich mich in
Hinsicht auf die Hitlerzeit nie gefragt habe: War mein Vater
vielleicht ein böser Mann? Oder war er ein stiller Held
des Widerstands? Oder ein Mitläufer?
Diese Fragen sind gewiss alle um so blödsinniger, als
ich selber schliesslich von meiner eigenen Stadt keine Ahnung
hatte und mich schon in meinen letzten Jahren hier eher um
den Spätkapitalismus und die Dritte Welt kümmerte,
wogegen ja auch nichts einzuwenden ist. Ich weiss, ich kann
nicht posthum auf meinen Vater zeigen und sagen: »Du
hättest Widerstand leisten müssen.« Das wäre
wohl eher mein eigener Job gewesen.
Was man am Ende noch lernen kann aus dieser Geschichte, das
betrifft gleichsam die verschiedenen Körperhaltungen
der Aufmerksamkeit. Ganz bestimmt ist es nötig und legitim,
mit erhobenem Kopf durch die Welt zu gehen und den Blick auf
ihre Herrlichkeiten zu richten. Nicht umsonst aber haben die
Stadtväter hier die Erinnerung an die Schmach, der sie
knapp entgangen sind, ins Pflaster versenkt, denn dort wird
sie kaum jemand entdecken. Um also den Subtext der Verhältnisse
lesen zu können, empfiehlt es sich, hier wie anderswo,
zuweilen die Nase nah am Boden zu haben, dem Beispiel unseres
Hundes auf unermüdlicher Spurensuche folgend. Ohne ihn
hätte ich die Schrift im Pflaster vielleicht nie entdeckt. |
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Eine Nacht im Leben von ...
Christoph Simon
Ich schrieb ein Buch: "Wohngemeinschaft oder Niemand
wird je aufhören, dir wehzutun". Was meine WG-Kollegen
veranlasste, auszuziehen, Fernseher, Minibar und Freundeskreis
mitzunehmen und mich in drei leeren Zimmern
(achtzig Quadratmeter mitten in der Stadt, Parterre, kleine
Küche, kleiner Balkon) zurückzulassen. Wochenlang
verschwendete ich die anfallenden Tantiemen für ein einsames
Leben, schloss mich im Zimmer ein, lag auf dem
Bett, Schokolade essend, Novellen lesend, soziale Geräusche
von den Wohnungen über mir her.
Eines Abends wurde mir langweilig. Auf der Suche nach einer
sinnvollen Abendbeschäftigung besuchte ich meine Nachbarn
- und stiess auf Tierhalter... "Harry hat sich eine chinesische
Zwergwachtel gekauft", sagt Frau Wenk von
nebenan.
"So?" sage ich, blicke zu Herrn Wenk. Herr Wenk
deutet mit dem Kopf auf den Käfig beim Fenster, über
den ein
schwarzes Tuch gebreitet ist. "Sie wollen sie sehen,
ja?" Ich folge den beiden zum Käfig, Herr Wenk zieht
das Tuch weg. "Da", sagt er. Ich sehe mir die Wachtel
an. Ein faustgrosses Tier, das stumpfsinnig vor der Bademöglichkeit
im Sand steht und den grauen Kopf nicht stillhalten kann.
"Was kostet der Spass?" frage ich.
Wenks lächeln bedeutungsvoll.
"Kommen Sie schon, wieviel?" Ich klimpere an den
Gitterstäben. Die Wachtel hüpft.
Frau Wenk im Plauderton: "Sie sind ein Stubenvogel-Mann
wie Harry, nicht
wahr?"
"Mehr oder weniger."
"Was für Tiere lieben denn Dichter wie Sie?"
"Katzen", sage ich.
Langes Schweigen, bis Herr Wenk den Käfig wieder zudeckt.
"Ein ehrlicher Mann. Legt die Karten auf den Tisch. Gefällt
mir."
Frau Sommer vom zweiten Stock hält sich Mauereidechsen
in einer hohen Holzkiste: Glatt gehobelt, an den Kanten versteift
und mit Drahtgaze verschlossen. Frau Sommer will wirklich
nicht, dass jemand abhaut. "Ich weiss nicht, wie ich
Œs nett oder höflich sagen kann", sage ich,
während ich die von einer Terrasollampe beschienenen
Eidechsen in der Kiste - im Kies, auf dem Kletterast, auf
dem Stein - zähle. "Was liegt ihnen an dem Kriechzeug?"
Ich zähle fünf olivgrün gefärbte, mit
einem Gitterwerk feiner
Flecken besetzte Widerlinge.
"Sie mögen keine Reptilien, richtig?"
"Weder Fisch noch Fleisch."
"Wer sich Echsen hält und die Geduld mitbringt,
sie zu beobachten, wird viel
erzählen können."
"Sie sonnen sich, ihr Dung riecht scharf."
"Sie legen Reviere an und bekämpfen sich. Ihr Verhalten
macht sie zu sehr
interessanten Tieren."
Ich zucke mit den Schultern.
"Sie mögen überhaupt keine Tiere", sagt
Frau Sommer.
"Tiere können Bissverletzungen zufügen",
sage ich. "Durch Erschrecken Personenschaden verursachen
oder Verkehrsunfälle herbeiführen."
"Man muss Tiere als Art Geschwister ansehen", meint
Frau Sommer ehrlich (meine Nachbarschaft findet es langweilig,
sich über Tiere lustig zu machen), "Geschwister,
die sich nicht grundsätzlich von uns unterscheiden.
Sie tragen Organe wie wir, paaren sich, werden krank und sterben
wie wir."
"Sind Fische dumm?"
Meine Frage weckt Sebastian (Mansarde im vierten) aus seinen
Träumen. Wir stehen vor seinem Aquarium - ein kleines
Becken mit Luftpumpe, Stabheizer, Bausand, Wasserpflanzen
- und ein paar bunten tropischen Süsswasserfischen, die
dem Schönheitsbedürfnis des Aquarianers entgegenkommen.
"Fische gehören zu den ältesten Lebewesen der
Erde", antwortet Sebastian.
"Sie atmen durch Kiemen und schwimmen mit Flossen. Sie
haben erreicht, was
sie erreichen konnten."
Um Mitternacht war ich zurück in meiner Wohnung. Stellte
ein Goldfischglas
auf den Wohnzimmerboden, legte mich davor, Schokolade essend,
eine Novelle
vorlesend. Ein Goldfischglas, in dem ein einsamer Bruder seine
Kreise zog... |
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