Linie 9. Leopoldplatz Richtung
Steglitz. Voll wegen Rush hour. Eine Frauenstimme teilt mir
mit, was ich mir fast schon gedacht habe: »Nächster
Bahnhof: Amrumer Straße!« Amrumer Straße
steigen zwei, drei Leute zu. Einer davon ein bulliger Bauarbeitertyp
mit schmierigen langen Haaren. Riecht nach Schnaps und Zigaretten.
Sieht etwas benebelt aus. Nimmt auf dem Klappsitz neben der
Tür Platz. Sein Handy spielt eine Melodie von Bach. Er
kramt das Ding aus seiner Jacke hervor, hält es sich
ans Ohr und berlinert: »Ja!?« Einigen weiteren
Worten ist zu entnehmen, daß es sich bei der Anrufenden
wohl um die Dame seines Herzens handeln muß.
»Na, ick bin gerade in der U-Bahn, uffn Wech nach Hause,«
sagt der Typ und fügt noch hinzu: »echt!«
Mir gegenüber steht eine Frau in einem Kostüm, Typ
Chefsekretärin, die sich für das Gespräch mindestens
ebenso zu interessieren beginnt wie ich. Der Typ mit dem Handy
schaut erst die Frau, dann mich verzweifelt an und schluckt,
als ob er jetzt sehr viel Mut bräuchte. »Na, ick
bin hier grad Adenauer, in der Sieben. Halbe Stunde, denn
bin ick zu Hause.«
»Nächster Bahnhof: Westhafen!« flötet
es in engelhafter Deutlichkeit durch den Wagen. Die Frau vor
mir beißt sich auf die Lippen und der Handymann stützt
seinen linken Arm aufs Knie und seine Stirn auf die Faust.
Rodins Denker bei einem komplizierten Telefongespräch.
Er beginnt zu schwitzen. »Na, wenn ick’s dir doch
sage: Ick komm grad von Therapie. Wo soll ick denn sonst jewesen
sein, sachma?«
»Nächster Bahnhof: Birkenstraße!«
Der Handymann bemerkt, daß sich inzwischen mehrere Fahrgäste
zu ihm hingewandt haben und grinsend auf eine Fortsetzung
warten. »Nee, hab ick nich, ehrlich!«, lügt
er verzweifelt weiter. »Ick würd dir doch nich
anlügen, hörma, kannst ma glooben.« Er dreht
sich soweit es geht von den Fahrgästen ab und versucht,
sein Handy mit der hohlen Hand gegen Umweltgeräusche
abzuschirmen. »Nächster Bahnhof: Turmstraße!«
Ein verhaltenes Glucksen und Prusten wabert durch den Wagen.
»Nu gloob mir doch. Ick bin direkt vonne Therapie inne
U-Bahn. Wie ick dit immer mache.« Kurze Pause. »Nee,
hab ick wirklich nich! Det is vorbei. Det du mir nie gloobst.
Ick find det echt enttäuschend.«
»Mutti, was machtn der Mann da?« fragt ein kleines
Mädchen. Und Mutti flüstert nur: »Pscht, erklär
ick dir später. Laß erstmal zuende hören.«
Der Handymann fährt sich mit den Fingern durch die feuchtglänzenden
Haare und atmet schwer. Er rollt mit den Augen. »Mann,
Mädchen, wie oft denn noch? Ick war nirgends. Ick hab
nich. Ick schwör’t!«
Der halbe Wagen glotzt ihn inzwischen ebenso fröhlich
wie dankbar an. Er glotzt zurück. »Na, jetz bin
ick, moment mal ...« Er starrt an die Decke und versucht,
sich auf dem bunten Liniengewirr des Netzplanes zurechtzufinden.
»Also, eben war Fehrbelliner. Echt! In 20 Minuten bin
ick bei dir. Wirste sehen!« Er ist den Tränen nah.
»Nächster Bahnhof: Hansaplatz!«
Inzwischen packt ihn der Mut desjenigen, der nichts mehr zu
verlieren hat. Er brettert in sein Handy: »Na, wat weeß
ick denn, wat hier bei die BVG wieder schiefläuft. Die
ham wahrscheinlich det falsche Band drin. Kann doch mal passieren,
kann ick doch nüscht für.«
Die anderen Fahrgäste sind erschrocken, ergriffen, einige
nicken sich anerkennend zu. Die Frau mir gegenüber spitzt
die Lippen. »Toll, wie der Mann lügen kann«,
scheint sie zu denken.
»Nu wird’s mir aber echt zu bunt hier!«
Der Handymann ist inzwischen aufgestanden, stemmt seine Faust
in die Hüfte und wendet sich an die Frau vor mir: »Nu
sagen Sie doch mal meine Freundin, wo wa hier sind! Die gloobt
mir dit sonst nich.«
Plötzlich hält die Frau das mittlerweile stark verschwitzte
Handy zwischen Daumen und Zeigefinger. »Hallo!?«
flüstert sie zaghaft hinein. »Ich bin die Frau
Brauer und stehe hier neben Ihrem Mann in der U-Bahn.«
Inzwischen ist sie es, die die Blicke der Fahrgäste auf
sich zieht. »Wo wir jetzt sind? Na, in der U-Bahn. Ach,
welcher Bahnhof?« Frau Brauer taxiert unsicher die Runde.
Der Mann schaut sie flehend an und auch alle anderen scheinen
sie irgendwie zu ermuntern.
»Nächster Bahnhof: Zoologischer Garten! Umsteigemöglichkeit
zur U-Bahn-Linie zwei, zur S-Bahn und zum Fernverkehr.«
Gespanntes Schweigen. Frau Brauer atmet noch einmal tief durch
und sagt dann: »Blissestraße, U7. Was dachten
Sie denn?« Einige Leute applaudieren. Stolz beginnt
sie zu lächeln. »Ja, Ihr Mann kommt gerade von
der Therapie«, sagt sie und fügt noch hinzu: »Echt!«
Sie grinst und sucht bei dem stinkenden Typen mit den schmierigen
langen Haaren so etwas wie Lob oder Anerkennung. Der jedoch
wedelt mit der offenen Rechten, weil er das Handy jetzt gerne
wieder zurückhaben will. Frau Brauer telefoniert munter
weiter: »Woher ich das weiß? Na, ich bin doch
auch bei der Therapie.« Triumphierend blickt sie in
die Menge. Der Zug steht noch immer im Bahnhof und draußen
auf dem Bahnsteig kommt es zum Tumult, weil keiner aussteigen
will. »Na, wir haben doch jetzt Gruppentherapie, wußten
Sie das nicht?« Der Mann, inzwischen kreidebleich geworden,
brummelt vor sich hin: »Mann, ick hab Physiotherapie
wegen meinem Rücken, Sie Eule! Dit jeht nich in Gruppen!«
»Nächster Bahnhof: Kurfürstendamm! Umsteigemöglichkeit
zur U-Bahn-Linie 15.« Frau Brauer wirkt inzwischen sehr
verunsichert. »Huch, schon Berliner Straße? Ich
muß ja umsteigen!« sagt sie und hält das
Handy, aus dem es inzwischen ziemlich laut zetert, in die
Menge: »Möchte jemand von Ihnen mal?« Mehrere
Hände recken sich ihr entgegen, doch der Handymann ist
schneller. »Ick schwör dir, ick kenn die Frau nich.
Ick hab die noch nie jesehen. Echt, gloob mir ditte!«
Ein Schluchzen ist das letzte, was ich von ihm höre,
denn Berliner Straße, da muß ich ja auch raus.
Umsteigen in die U9 Richtung Steglitz. |