Nummer 115 Zurück zum Archiv

Aus Berlin

Erscheinungsdatum: März 2003

Auszüge:
Inhaltsverzeichnis
Über dieses Heft
Eva Corino: Das Haus hinterm Mond
Tom Beinlich: Ich bin die Frau Brauer
und stehe hier neben Ihrem Mann
Kathrin Röggla: Gruppenbildung
 
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Inhaltsverzeichnis

(Unterstrichene Texte können angewählt werden)

Über dieses Heft
Rudolf Bussmann: Fisimatenten
Aus Berlin

Einleitung von Peter Ensberg
Kathrin Röggla: drei Prosatexte
Eva Corino: Gedichte
Sherko Fatah: Selima
Ulf Stolterfoht: Gedichte
Thomas Lehr: Zürich 1989
Monika Rinck: Gedichte
Ulrich Schlotmann: Die Freuden auf der Jagd
Tom Beinlich: Ich bin die Frau Brauer und stehe hier neben ihrem Mann
Gespräch mit Helmut Böttiger
Gespräch mit Dieter Stolz

Besprechungen und Hinweise
Rudolf Bussmann über Friederike Kretzen
Frank Wittmann über Fleur Jaeggy
Christoph Wegmann über Nicolas Bouvier
Werner Morlang über Peter Weber
Elsbeth Pulver über Jürg Schubiger
Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren
Die Autorinnen und Autoren
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Über dieses Heft

Liebe Leserin, lieber Leser

Berlin ist seit einigen Jahren wieder die Hauptstadt Deutschlands. Berlin, die Stadt zwischen neuer Urbanität und altehrwürdiger Grösse, gilt inzwischen auch als das Zentrum der deutschen Literatur. Nirgendwo, so wird behauptet, sei die Autorendichte pro Quadratmeter so gross wie in Berlin. Da möchte man natürlich gerne Genaueres wissen.
In der vorliegenden Nummer des „drehpunkt“ präsentieren wir Prosatexte und Gedichte von Autorinnen und Autoren, die in Berlin leben und schreiben. Von Thomas Lehr, Kathrin Röggla, Ulf Stolterfoht, Sherko Fatah, Eva Corino, Monika Rinck und Ulrich Schlotmann. Mit von der Partie ist auch der "Surfpoet" Thomas Beinlich, der seine Texte am liebsten in Kneipen vorträgt.
Der Kritiker und Autor Helmut Böttiger erklärt in einem Gespräch, weshalb ausgerechnet Berlin der Literatur so förderlich ist, dass die Stadt zum Zentrum der "neuen deutschen Literatur" werden konnte. Dieter Stolz beleuchtet die Rolle von Marketing und Qualität im literarischen Bereich. Und der Germanist Peter Ensberg, der für uns mit grosser Umsicht die Auswahl der Texte besorgt hat, fragt nach, was an der "neuen deutschen Literatur" denn eigentlich das Neue ist.
Und Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, wünschen wir eine anregende Lektüre!



Rudolf Bussmann und Martin Zingg
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Eva Corino

Das Haus hinterm Mond

Der Herbst kommt, und
jetzt brauchen wir doch einen Fernseher,
ein Lagerfeuer,
vor dem wir in Ruhe schweigen können
und kalte Bohnen essen.
Das Kind schreit,
ich suche die Maultrommel,
du singst so laut und so falsch
wie es nur geht.


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Tom Beinlich

Ich bin die Frau Brauer und stehe hier neben Ihrem Mann

Linie 9. Leopoldplatz Richtung Steglitz. Voll wegen Rush hour. Eine Frauenstimme teilt mir mit, was ich mir fast schon gedacht habe: »Nächster Bahnhof: Amrumer Straße!« Amrumer Straße steigen zwei, drei Leute zu. Einer davon ein bulliger Bauarbeitertyp mit schmierigen langen Haaren. Riecht nach Schnaps und Zigaretten. Sieht etwas benebelt aus. Nimmt auf dem Klappsitz neben der Tür Platz. Sein Handy spielt eine Melodie von Bach. Er kramt das Ding aus seiner Jacke hervor, hält es sich ans Ohr und berlinert: »Ja!?« Einigen weiteren Worten ist zu entnehmen, daß es sich bei der Anrufenden wohl um die Dame seines Herzens handeln muß.
»Na, ick bin gerade in der U-Bahn, uffn Wech nach Hause,« sagt der Typ und fügt noch hinzu: »echt!«
Mir gegenüber steht eine Frau in einem Kostüm, Typ Chefsekretärin, die sich für das Gespräch mindestens ebenso zu interessieren beginnt wie ich. Der Typ mit dem Handy schaut erst die Frau, dann mich verzweifelt an und schluckt, als ob er jetzt sehr viel Mut bräuchte. »Na, ick bin hier grad Adenauer, in der Sieben. Halbe Stunde, denn bin ick zu Hause.«
»Nächster Bahnhof: Westhafen!« flötet es in engelhafter Deutlichkeit durch den Wagen. Die Frau vor mir beißt sich auf die Lippen und der Handymann stützt seinen linken Arm aufs Knie und seine Stirn auf die Faust. Rodins Denker bei einem komplizierten Telefongespräch. Er beginnt zu schwitzen. »Na, wenn ick’s dir doch sage: Ick komm grad von Therapie. Wo soll ick denn sonst jewesen sein, sachma?«
»Nächster Bahnhof: Birkenstraße!«
Der Handymann bemerkt, daß sich inzwischen mehrere Fahrgäste zu ihm hingewandt haben und grinsend auf eine Fortsetzung warten. »Nee, hab ick nich, ehrlich!«, lügt er verzweifelt weiter. »Ick würd dir doch nich anlügen, hörma, kannst ma glooben.« Er dreht sich soweit es geht von den Fahrgästen ab und versucht, sein Handy mit der hohlen Hand gegen Umweltgeräusche abzuschirmen. »Nächster Bahnhof: Turmstraße!«
Ein verhaltenes Glucksen und Prusten wabert durch den Wagen.
»Nu gloob mir doch. Ick bin direkt vonne Therapie inne U-Bahn. Wie ick dit immer mache.« Kurze Pause. »Nee, hab ick wirklich nich! Det is vorbei. Det du mir nie gloobst. Ick find det echt enttäuschend.«
»Mutti, was machtn der Mann da?« fragt ein kleines Mädchen. Und Mutti flüstert nur: »Pscht, erklär ick dir später. Laß erstmal zuende hören.«
Der Handymann fährt sich mit den Fingern durch die feuchtglänzenden Haare und atmet schwer. Er rollt mit den Augen. »Mann, Mädchen, wie oft denn noch? Ick war nirgends. Ick hab nich. Ick schwör’t!«
Der halbe Wagen glotzt ihn inzwischen ebenso fröhlich wie dankbar an. Er glotzt zurück. »Na, jetz bin ick, moment mal ...« Er starrt an die Decke und versucht, sich auf dem bunten Liniengewirr des Netzplanes zurechtzufinden. »Also, eben war Fehrbelliner. Echt! In 20 Minuten bin ick bei dir. Wirste sehen!« Er ist den Tränen nah.
»Nächster Bahnhof: Hansaplatz!«
Inzwischen packt ihn der Mut desjenigen, der nichts mehr zu verlieren hat. Er brettert in sein Handy: »Na, wat weeß ick denn, wat hier bei die BVG wieder schiefläuft. Die ham wahrscheinlich det falsche Band drin. Kann doch mal passieren, kann ick doch nüscht für.«
Die anderen Fahrgäste sind erschrocken, ergriffen, einige nicken sich anerkennend zu. Die Frau mir gegenüber spitzt die Lippen. »Toll, wie der Mann lügen kann«, scheint sie zu denken.
»Nu wird’s mir aber echt zu bunt hier!« Der Handymann ist inzwischen aufgestanden, stemmt seine Faust in die Hüfte und wendet sich an die Frau vor mir: »Nu sagen Sie doch mal meine Freundin, wo wa hier sind! Die gloobt mir dit sonst nich.«
Plötzlich hält die Frau das mittlerweile stark verschwitzte Handy zwischen Daumen und Zeigefinger. »Hallo!?« flüstert sie zaghaft hinein. »Ich bin die Frau Brauer und stehe hier neben Ihrem Mann in der U-Bahn.« Inzwischen ist sie es, die die Blicke der Fahrgäste auf sich zieht. »Wo wir jetzt sind? Na, in der U-Bahn. Ach, welcher Bahnhof?« Frau Brauer taxiert unsicher die Runde. Der Mann schaut sie flehend an und auch alle anderen scheinen sie irgendwie zu ermuntern.
»Nächster Bahnhof: Zoologischer Garten! Umsteigemöglichkeit zur U-Bahn-Linie zwei, zur S-Bahn und zum Fernverkehr.«
Gespanntes Schweigen. Frau Brauer atmet noch einmal tief durch und sagt dann: »Blissestraße, U7. Was dachten Sie denn?« Einige Leute applaudieren. Stolz beginnt sie zu lächeln. »Ja, Ihr Mann kommt gerade von der Therapie«, sagt sie und fügt noch hinzu: »Echt!« Sie grinst und sucht bei dem stinkenden Typen mit den schmierigen langen Haaren so etwas wie Lob oder Anerkennung. Der jedoch wedelt mit der offenen Rechten, weil er das Handy jetzt gerne wieder zurückhaben will. Frau Brauer telefoniert munter weiter: »Woher ich das weiß? Na, ich bin doch auch bei der Therapie.« Triumphierend blickt sie in die Menge. Der Zug steht noch immer im Bahnhof und draußen auf dem Bahnsteig kommt es zum Tumult, weil keiner aussteigen will. »Na, wir haben doch jetzt Gruppentherapie, wußten Sie das nicht?« Der Mann, inzwischen kreidebleich geworden, brummelt vor sich hin: »Mann, ick hab Physiotherapie wegen meinem Rücken, Sie Eule! Dit jeht nich in Gruppen!«
»Nächster Bahnhof: Kurfürstendamm! Umsteigemöglichkeit zur U-Bahn-Linie 15.« Frau Brauer wirkt inzwischen sehr verunsichert. »Huch, schon Berliner Straße? Ich muß ja umsteigen!« sagt sie und hält das Handy, aus dem es inzwischen ziemlich laut zetert, in die Menge: »Möchte jemand von Ihnen mal?« Mehrere Hände recken sich ihr entgegen, doch der Handymann ist schneller. »Ick schwör dir, ick kenn die Frau nich. Ick hab die noch nie jesehen. Echt, gloob mir ditte!«
Ein Schluchzen ist das letzte, was ich von ihm höre, denn Berliner Straße, da muß ich ja auch raus. Umsteigen in die U9 Richtung Steglitz.


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kathrin röggla

gruppenbildung

er schneidet sich aus fotos raus.
sie schneidet sich aus fotos raus.
und sie machen auch schon mal mit, lassen sich gerne mal aus.
soll ja nichts zu sehen sein, nichts zu entdecken in ihren gesichtern.
jetzt aber mal halblang! wenn alle sich aus fotos rausschneiden würden, wo kämen wir da hin.
sie sagt, sie sei eben nicht schön.
er sagt, er sei es nicht wert.
und sie wollen sich eben lieber raushalten.
diesbezüglich folge man eben traditionellen vorbildern.
ja, diesbezüglich sei man eher konventionell.
wenn alle so eine einstellung hätten, wird dann gesagt. doch gottseidank: die meisten fühlen sich ja doch mit ihren bildern verwandt.


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dreh-punkt.ch / Last updated 16.10.2003 / Impressum / Home