Ulrike Draesner
Vielleicht hat jede Nacht ein Zentrum, zu dem man sich vorarbeiten
muss, verborgen in Traum oder Alptraum, und manchmal, in besonderen
Nächten, ist man wach, wenn man dieses Zentrum erreicht
und erinnert sich später, verborgen zwischen Alptraum
und Traum, daran, was war.
Harro kam im Auto seines Vaters, zu spät wie immer, aber
dagegen liess sich nichts sagen, schliesslich hatte er alles
organisiert, die Lesung am Abend auf der Messe, die Fahrt
und die Übernachtung bei Freunden, irgendwelchen Russen
in den Outskirts von Leipzig. Es war schon Ende März,
doch noch immer ziemlich kalt, was vielleicht auch an dem
Loch in einem der Seitenfenster des Wagens lag. In Leipzig
umrundeten wir ein paar Mal den hotelgesäumten Vorplatz
am Hauptbahnhof, an dem alle Strassenbahnlinien sich kreuzten.
Das Umschaltwerk in der Ferne, Richtung Messe, gefiel mir
- ein hübsches technisches Ding. Endlich standen wir
in der richtigen Strasse, im richtigen Haus, im richtigen
Stockwerk vor der Wohnung der Russen. An den Türen klebten
Alunummern, die man dringend brauchte, denn jede Wohnung sah
gleich aus. Die Russenfreunde jedoch schienen nicht da zu
sein, Harro behielt unsere Sachen im Auto, und ich fuhr, so
schnell ich konnte, zur Messe hinaus. Es wurde schon dämmrig,
die Strassenlaterne entfachte ein Feuer auf der dunklen Fensterscheibe
der Bahn. Das Feuer brannte in meinem Gesicht.
Wo war nur der Stand, an dem er arbeitete? Laufen. Ich gab
eine Nachricht für ihn ab. Laufen, Hände schütteln.
Von ihm lag eine Nachricht bei meinem Verlag, mit seiner Handynummer.
Göttlich, diese kleinen Telefone. Ich dankte der Technik
auf Knien. Mein Herz pochte, wie es gar nicht pochen durfte.
Wenn das so weiterging, sah man es noch durch meine Jacke
hindurch! Und dann wurde ich bestimmt wieder rot.
Nach der Lesung erzählte Harro, dass die Russen, in deren
Wohnung inzwischen alle unsere Sachen lägen, für
den Abend anderswo hingegangen seien und dabei naturgemäss
einen Schlüssel für die Wohnung behalten hätten,
während er, naturgemäss, den zweiten habe. Ich ahnte
Verwicklungen, aber zum Glück wollten die anderen erst
einmal auf dasselbe Verlagsfest wie ich. Draussen war es seit
Stunden dunkel, doch die Nacht, alt wie ein Farn, rollte ihre
noppenbesetzten kalten Blätter immer noch tiefer in den
Strassen hinein. Der Verlag feierte in einem riesigen, leerstehenden
Haus. Nach einer Stunde musste ich gehen, die anderen behielten
den Schlüssel und grinsten, ich sagte, dass ich noch
eine Verabredung hätte, um eins, sie sagten „viel
Spass!“.
Er trank gern Whiskey. Ich trank nicht gern Whiskey. Natürlich
würde ich Whiskey mit ihm trinken. Die Nacht hatte einen
Kern, ich wusste, warum ich hier war, wir bewegten uns darauf
zu.
Als ich in seinem Hotel ankam, schloss die Bar gerade. Also
setzte ich mich in die Lobby und schlug die Beine übereinander.
Der Angestellte an der Rezeption erzählte mir, wo man
noch hingehen könne, falls die 504 doch noch erscheine.
Ich blätterte in einer Zeitschrift. Um halb zwei sprach
ich ihm auf die Mailbox. Mein Herz wurde rauh, es schabte
in meiner Seite wie eine Feile mit zwei Kanten. Jede Menge
Taxis fuhren vor. Leute stiegen aus, die ich kannte. Er nicht.
Ich ärgerte mich, dann bekam ich Angst, dass er vielleicht
gar nicht käme. Doch statt wutentbrannt zu verschwinden,
schmolz ich auf meinem Stuhl weiter vor mich hin. Um zwei
fuhr ich zu dem Verlagsfest zurück. Er hatte sich ganz
in seine Mailbox verwandelt. Ich folgte einer Gruppe, die
noch von einem anderen Fest wusste. Eine schrie auf, als sie
merkte, dass ihre Geldbörse fehlte, doch 1000 Meter später
fand sie sie in ihrer Hosentasche wieder. Die Sterne funkelten,
und Leipzig war leer. Als wir über einen Platz zwischen
mehreren Kreuzungen gingen, begannen die Vögel in den
Büschen zu zwitschern. Mitten in der Nacht: schön,
kalt, und Vögel sangen in den Büschen. Als versuchten
sie, die Sonne anzulocken. Nach einer Viertelstunde hörten
sie wieder auf. Ich nahm ein Taxi und nannte die Adresse der
Russen.
In der Haustür im Hinterhof klemmte eine riesige Obstpalette.
Ich war erleichtert, knippste das Licht an und stieg die Linoleumtreppen
hoch. Nachdem ich ein paarmal geklingelt hatte, rief ich Harros
Namen. Nichts rührte sich. Ich trat gegen die Tür.
Wenn ich so weitermachte, war bestimmt gleich das ganze Haus
wach. Doch erneut: nichts, nur mein Wahnsinnskrach. Das Zentrum
der Nacht war nicht der goldgelbe Schimmer eines Whiskeyglases
- es war diese lange rutschige Bahn Linoleum, das im Licht
der Glühbirnen geradezu hämisch leuchtete und zusah,
wie ich darauf herumzappelte, verletzt und ratlos.
An der kilometerweit geradeausführenden Strasse vorm
Haus tauchte das funzeliggelbe Ostlicht der Sachsen mich in
einen langen Schatten. Endlich kam ein Taxi. Ich liess mich
zu dem Hotel am Bahnhof fahren, schliesslich kannte ich dort
die Rezeption so gut. Natürlich fragte ich nach dem Mann,
der zu seiner Mailbox geworden war. „Auf dem Zimmer.“
Der Rezeptionist schaute erwartungsvoll. Es war fast fünf.
Ich bekam Zimmer 537, billiger, weil es so spät war.
Die Nacht ist nicht lang, sagte der Mann hinterm Tresen. Er
hatte keine Ahnung. Ich stand dann noch vor der 504, ein paar
Minuten, vielleicht auch ein paar Minuten länger, doch
mir reichte es mit Klopfen für diese Nacht.
Mein Zimmer ging auf den Hauptbahnhof hinaus. Nackt lag ich
in den kalten Laken, erregt, aufgeregt, müde, durch einen
Turbo gedreht. Auf einem der grossen Neonbuchstaben des Hotelnamens,
die an der Aussenwand leuchteten, schlief ein Vogel, den Kopf
unter die Federn gesteckt. Seepferdchen trieben im Teppichboden,
die Seife lag still auf ihrer Schale, dick und fest klebte
die Nacht an den Scheiben. Ich fühlte mich wie aus dem
eigenen Leben gehoben und in eine Höhle gekrochen. Keiner
konnte mich finden, doch da lag ich, warm und hellwach. Das
Umspannwerk blitzte in mehreren übereinandergestapelten
Ringen Zeichen durch die Nacht. Ich schrieb ein Gedicht.
Harro und seine Freunde hatten stockbesoffen bei den Russen
hinter der Tür gelegen und nichts gehört. Bis heute
erröten sie, wenn sie daran erinnert werden. Im Jahr
darauf verbrachte Harro seine Messenacht in einer Würstchenbude.
Den Mailboxmann sah ich kurz durch einen Büchergang huschen.
Gesichter, Pläne, Möglichkeiten und Sehnsucht durchkreuzen
sich, führen um uns herum, wickeln uns ein. Jede Nacht
hat ihr Zentrum dort, wo sie sich, verborgen in Traum oder
Alptraum, schneiden, und manchmal, in besonderen Nächten,
ist man wach, wenn man dieses Zentrum erreicht und erinnert
sich später, zwischen Alptraum und Traum, daran, was
war. |